Volker Skierka:
Tagebuch eines Gauklers
Die geschriebenen und gezeichneten Notizen des Armin Mueller-Stahl als Thomas Mann
[Copyright J. Strauss Verlag Potsdam, 2001]
Fünf Monate lang, von Mai bis September 2000, hat Armin Mueller-Stahl bei der Produktion der mehrteiligen Fernsehspieldokumentation von Heinrich Breloer und Horst Königstein über die Familie Mann einen Unsterblichen gespielt: Thomas Mann. ''Dafür habe ich ihm meinen Kopf, meine Stimme, meine Hände, ja sogar meine Gefühle geliehen. Auch habe ich versucht, ihn mit meinen Mitteln in die heutige Zeit zu übertragen'', erläutert Mueller-Stahl. Wissend, wie gern das Publikum den Darsteller einer Figur zum Original erhebt, ist es ihm wichtig, sich von dem Porträtierten abzugrenzen. Keinesfalls habe er bei diesem Rollenspiel versucht, Thomas Mann zu imitieren, sagt er. ''Unsere einzige Verwandtschaft besteht darin, daß auch er ein Gaukler war.''
Mueller-Stahl hat über diese Zeit ein Tagebuch geführt. Allerdings nicht wie der wirkliche Thomas Mann in Form einer egozentrischen Nabelschau. Die Notizen des Schauspielers reflektieren die Drehtage und -pausen mit ihren kleinen und großen Tagesereignissen, den Begegnungen und persönlichen Gedanken. Es ist ein geschriebenes und gezeichnetes Tagebuch. Die Notizen hat er festgehalten im Laptop-Computer, Zeichnungen, hingetuscht mit schnellem Strich in Drehpausen oder später im Hotelzimmer auf nicht mehr benötigten Seiten seines Drehbuchexemplars zu den Manns.
Menschen sind in diesem Tagebuch festgehalten, denen er zufällig begegnete. Im Hotel oder bei den Filmarbeiten. Der Dirigent Zubin Metha und Mueller-Stahls Maskenbildner Waldemar Prokomski; ein Mann, alte Damen, die Mueller-Stahl im Cafe ansprechen; Menschen die ihm in den Sinn kommen wie Albert Schweitzer, der Pianist Wladimir Horowitz oder der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Auf das Deckblatt einer im Jahre 1926 in einer Berliner Bar spielenden Drehfolge zeichnet er neben die Anmerkung, daß hier eine ''fast nackte schwarze Schönheitstänzerin'' auftritt, eine elegante alte Dame mit Täschchen und Stock und merkt handschriftlich an: ''Queen Mum wird 100 Jahre alt. Thomas Mann geht auf die 130 zu.''
Das Blatt vom 20. Juli heißt ''Berhard Wicki kurz vor dem Tod'', das vom nächsten Tag zeigt die Köpfe des damaligen israelischen Außenministers Levy und seines Premierministers Barak, in trotzig arroganter Haltung der eine, mit niedergeschlagenem Blick der andere. Unterschrieben mit dem Kommentar: ''Levy fällt Premier Barak in den Rücken. Der israelische Schriftsteller Amos Oz sagt: ‚Es geht jetzt um Leben und Tod...'' Stellen wie diese zwingen zum Innehalten, weil deutlich wird, wann sie geschrieben wurden: Vor dem 11. September 2001.
Am 29. August 2000 schreibt Mueller-Stahl in sein Tagebuch, daß er, während er in einer Szene seinen Text sprach, mit den Gedanken ganz woanders war: ''Ich weiss nicht, welche Waffen im nächsten Krieg zu Anwendung kommen, wohl aber, welche im übernächsten. Pfeil und Bogen, hat Einstein gesagt. Aber nicht, weil die Welt nach einem nächsten Krieg wieder bei Null beginnen wird oder muss, sondern weil sie darüber nachdenken sollte, wie sie auch ohne Waffen überleben könnte. Zwölf Millionen Kinder sterben jährlich an Hunger. Man braucht keine Waffen mehr, um sich umzubringen.'' Und doch: Während ein Jahr später das Erscheinen dieses Buches vorbereitet wird, ist Krieg. Krieg gegen Terroristen, deren Gefolgsleute an diesem 11. September 2001 fast 6000 Menschen umgebracht haben.
An anderer Stelle sinniert er über die Brüder Mann, analysiert deren Charaktere aus der Perspektive des Zeichners: ''Es ist die innere Triebkraft, die Aufwärtsbewegung, die Thomas Mann auszeichnet. Ich versuche, ihn mit einem Strich zu zeichnen. Es funktioniert nicht. Man muss ihn stricheln, von unten nach oben, der Mund, die Nase, die Augenbrauen, alles will nach oben, erst so entsteht Ähnlichkeit. Anders bei Heinrich. Ihn kann man mit einem Strich zeichnen. Bei ihm geht alles abwärts. [...] Durchs Zeichnen lerne ich beide besser kennen. Die vielen Aufwärtsbewegungen bei Thomas beginnen mich zu stören, sie nehmen mir an Sympathie, dagegen wird mir Heinrich sympathisch. Man möchte an seiner Seite stehen, man spürt die Ungerechtigkeiten der Schicksale, warum so viele Abwärtsbewegungen?'' Und tatsächlich, so zeichnet er sie auch. Den einen gestrichelt, den anderen mit einem Strich. Immer wieder aber zeichnet er Proträts von Thomas Mann, und manchmal schimmert ein Selbstporträt durch.
Was für ein Mensch war dieser Thomas Mann? ''Einer, der sein ganzes Leben für sein Nachleben, für seine Unsterblichkeit gelebt hat. Heinrich Mann war hingegen sein ganzes Leben lang darum bemüht, nicht so zu werden wie sein jüngerer Bruder'', meint Mueller-Stahl.
Vielleicht ist Mueller-Stahl die Thomas-Mann-Figur zeichnerisch wie schauspielerisch so gut gelungen, weil es gewisse Ähnlichkeiten in beider Leben gibt. Für beide waren und sind Lübeck und der Ostseeraum Heimat. Bei Mueller-Stahl, obwohl er aus dem ostpreußischen Tilsit kommt, reicht die Ahnentafel seiner Lübecker Vorfahren sogar weiter zurück als die der Manns.
Es gibt weitere Parallelitäten und sich kreuzende Wege: Es trieb die politische Entwicklung sie fort von zu Hause, nach Westen. Den einen fort von Deutschland ins Ausland, den anderen von Deutschland Ost nach Deutschland West. Beide landeten sie schließlich in Amerika, in der erzwungenen Emigration der eine, in der freiwilligen der andere. Der Zufall wollte es, daß Mueller-Stahl heute nicht nur bei Lübeck, sondern auch in Pacific Palisades bei Los Angeles wohnt, nur einen Hügel vom San Remo Drive entfernt, Thomas Manns Adresse in den Vierzigern bis Mitte der fünfziger Jahre.
Ähnlich wie Thomas Mann, der nach dem Prinzip lebte, überall wo er wäre, sei Deutschland, ist Armin Mueller-Stahl Zeit seines Lebens ''Unterwegs nach Hause'' gewesen, wie der Titel eines seiner Bücher lautet. Aber wo ist für ihn letztlich ''zu Hause''? Dort, wo seine Frau Gabi ist, sagt er. Und welches ist seine wirkliche Heimat? ''Meine Heimat ist die deutsche Sprache'', sagt er mit einem Zitat aus der Zeit des deutschen Exils.
Als die noch lebende hochbetagte Mann-Tochter Elisabeth im Dezember 2000 dem Darsteller ihres Vaters zum 70. Geburtstag gratulierte, schrieb sie in der Anrede: ''Liebes Herrpapale''. Wie früher. Aber ein dreiviertel Jahr später, am 12. September 2000, dem letzten Drehtag, schreibt der Schauspieler dagegen in sein Tagebuch: ''Heute [...] streife ich die Thomas Mannschen Ringe vom Finger, setze die Brille ab, steige aus dem Anzug, hole die Perücke vom Kopf und bin nun wieder verdammt, für den Rest meines Lebens ich selber zu sein. [...].''