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Castro - Graphic Novel / Comic
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von Reinhard Kleist, mit einem Vorwort von Volker Skierka |
280 Seiten, Hardcover, farbig, Deutschland: € 16,90 / Oesterreich: € 17,40 / Schweiz: sFr 30,90, Erscheinungsdatum: 1. Oktober 2010, Carlsen Verlag, ISBN 978-3-551-78965-5 |
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Marta Feuchtwanger Copyright Volker Skierka
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Ein Don Quijote gegen Dummheit und Gewalt |
Einstündiges Radio-Feature von Volker Skierka für NDR-Kultur aus Anlass des 50. Todestages am 21. Dezember 2008 und des 125. Geburtstages des deutsch-jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger am 7. Juli 2009 sowie ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Literaturexperten Prof. Fritz J. Raddatz.
Der Freund und Weggefährte von Bertolt Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Arnold Zweig sowie anderen literarischen Zeitgenossen zählte zu den ersten, den die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung Hitlers ausbürgerten. 1933 zog der Verfasser historischer Romane wie „Jud Süß“, „Erfolg“, „Der jüdische Krieg“ und „Goya“ zunächst nach Sanary-sur-mer an der französischen Mittelmeerküste. 1940, nach dem Überfall Deutschlands auf Frankreich, mußte er er unter dramatischen Umständen in die USA fliehen. „Die Dummheit der Menschen ist weit und tief wie das Meer“, schrieb er 1933 in einem Brief an Zweig. Seine Arbeit widmete der linksbürgerliche Romancier dem – vergeblichen - Kampf der Vernunft gegen Dummheit und Gewalt. Volker Skierka, Journalist und Biograf Feuchtwangers, zeichnet dessen Leben anhand von Dokumenten, Interviews und – bislang unveröffentlichter - Tonbandaufnahmen zahlreicher Gespräche nach, die der Autor einst mit Feuchtwangers Witwe Marta und seiner Sekretärinnen Lola Sernau führte.
(Mehr unter Menüpunkten "Publikationen / Lion Feuchtwanger" sowie "Villa Aurora") |
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Konzentrationslager Birkenau (Auschwitz). - Text und Fotos: Volker Skierka
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Weiße Flecken, dunkle Geschichte |
Aus: Der Tagesspiegel, 20. Jan. 2006
80 Jugendliche, Deutsche und Polen, auf der Suche nach der Wahrheit, die die Nazis unterdrückt haben. Versuch einer Versöhnung
Alles ist wie in Watte gebettet. Der Schnee liegt hoch, die Bäume und der doppelte Stacheldrahtzaun sind weiß überpudert. In klirrender Kälte passieren die polnischen Germanistik-Studentinnen Kasia Król und Maria Mrówca das weit geöffnete Tor unter dem Schriftzug „Arbeit macht frei“. Es ist früh am Tag. Man ist allein im ehemaligen Menschen-Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau. Stumm, in sich gekehrt und ziellos gehen die jungen Frauen durch die einsamen Lagerstraßen, stehen in einer der ehemaligen Gefangenen-Unterkünfte plötzlich vor einer 20 Meter langen Glaswand, hinter der zwei Tonnen Menschenhaar liegen. Es konnte wegen der Befreiung des KZs nicht mehr an die Textilindustrie geliefert werden.
Kasia, die große, schlanke Dunkelhaarige, ist 21 Jahre alt, Maria, etwas kleiner und blond, ist 23. Ihre Gesichter sind wie versteinert. Draußen sagt Kasia nur: „Wenn man daran denkt, dass viele der Täter und der Opfer in unserem Alter waren …“ Dann nimmt Maria den Faden auf und sagt: „Ich glaube, es ist wichtig für die Deutschen, dass Menschen anderer Nationen mit ihnen darüber sprechen.“
In dem massiven roten Backsteinbau mit der Nummer 24, wo das Archiv jenes Ortes untergebracht ist, haben Kasia und Maria mit drei Kommilitoninnen und einem Kommilitonen von der Universität des 60 Kilometer entfernten Krakau mit einem einzigartigen deutsch-polnischen Geschichtsprojekt begonnen.
Die Studenten forschten nach Lücken und Manipulationen in der seit dem Überfall Hitlers auf Polen 1939 gleichgeschalteten Lokalpresse. Diese „weißen Flecken“ in der offiziellen Berichterstattung, versuchten die Studenten 60 Jahre nach Kriegsende mit Wahrheiten zu füllen. „Hunderte von dicken Bänden, Tagebücher und Dokumente, liegen hier“, sagen sie. „Wir haben einfach einige herausgegriffen, darin geblättert und gelesen. Das war der Anfang.“
Herausgekommen ist dabei aber nicht eine neue Arbeit über den Massenmord von Auschwitz, sondern eine Untersuchung über ein nahezu unbekanntes Thema – über den damals weitverzweigten und oft tödlichen Widerstand der gut organisierten polnischen Pfadfinderbewegung und deren Untergrundpresse im Raum Krakau...
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Reportage |
Wo endet das Recht? |
Guantánamo II |
Wo endet das Recht? |
Hunderte von „Terroristen“ sitzen in einem US-Lager weitab von der Welt – ein Besuch in Guantanamo Bay auf Kuba |
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© Volker Skierka |
DER TAGESSPIEGEL, Dritte Seite |
26.01.2004 |
Die Farbe Orange. Seit dem 11. September 2001 steht sie in Amerika für den Verlust von Freiheit. Als Synonym für ein Leben in ständiger Bedrohung. Bei Terroralarm der Stufe „Code Orange“ droht überall Gefahr. Und Reisen in den Zeiten von „Code Orange“ bedeutet: Jeder ist verdächtig. Doch als der Autor an einem Januarmorgen im Marinestützpunkt Jacksonville in Florida sein Ticket mit der Nummer „VS206804PRC000“ in die Hand gedrückt bekommt, weiß er, dass er keine Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten darstellt. Schon vor Wochen musste sich sein Name auf eine Odyssee durch die Computer des Pentagon sowie der US-Sicherheits- und Geheimdienste begeben, ehe er die Erlaubnis erhielt, auf dem Militärflug BLM3 mitreisen zu dürfen. „Allein neun Tage dauerte es, bis Ihre FBI-Überprüfung vorlag“, wird ihm später jemand verraten. „Checked and cleared“, und „embedded“ in die von ihm unterschriebenen Verhaltensregeln der Public-Relations-Abteilung des US-Verteidigungsministeriums ist er schließlich unterwegs an ein für gewöhnliche Reisende verbotenes Ziel...
Nach gut zwei Stunden Flug übers Meer landet die Boeing 737 auf der Leeward-Side jener malerischen Bucht in der Karibik, die Christopher Kolumbus auf seiner zweiten Reise 1494 entdeckt und „Puerto Grande“, „Großer Hafen“, getauft hatte. „Welcome To U.S. Naval Base Guantanamo Bay“, heißt es auf der am Rollfeld angebrachten Begrüßungstafel des Stützpunkt-Kommandeurs und Bürgermeisters – Navy-Captain Leslie McCoy. Guantanamo Bay, die 117 Quadratkilometer große, zur Hälfte aus Wasser und Sumpfland bestehende Basis der US-Marine ist seit über 100 Jahren eine amerikanische Exklave am Ost-Ende Kubas, der „Perle der Antillen“. Mit politischem und militärischem Druck hatte Washington 1903 der jungen kubanischen Republik dieses Landschaftsidyll abgetrotzt.
Mit Ende des Kalten Krieges versank die einstige Versorgungsbasis der amerikanischen Atlantikflotte in einen Dornröschenschlaf. Bis der 11. September 2001 passierte und die amerikanischen Heimatschützer um US-Präsident George W. Bush in ihrem „globalen Krieg gegen den Terror“ eine neue, spektakuläre Verwendung für den verkümmernden Stützpunkt fanden. Sie machten Guantanamo Bay zum sichersten und abgeschiedensten Gefängnis ihrer Welt. „Derzeit sitzen etwa 660 verdächtige Terroristen und Taliban-Kämpfer mit 44 Nationalitäten in Camp Delta. Alle wurden in Afghanistan gefangen genommen. Der Jüngste ist zwölf, der Älteste 70 Jahre alt“, sagt General Geoffrey Miller, der Chef der 2200 männliche und weibliche Soldaten zählenden „Joint Task Force Guantanamo Bay“ (JFT-GTMO). Miller ist ein mittelgroßer, hochdekorierter Armeeoffizier mit festem Blick und einem Panzer aus Höflichkeit, Freundlichkeit, Eloquenz, Humor und auch Verständnis um einen harten Kern von Loyalität, Disziplin und festem Willen, der durch kein Mitleid angreifbar scheint. Er ist fest davon überzeugt, seine Häftlinge sind keine Unschuldslämmer. „Sie wurden bei den Vernehmungen von 8000 in Afghanistan Festgenommenen herausgefiltert.“
Auf den ersten Blick wirkt Guantanamo Bay wie eine amerikanische Kleinstadt in der Karibik, die sich mit ihren typisch amerikanischen Vorortsiedlungen, einer Shopping-Mall und Selbstbedienungsrestaurants von McDonalds und Pizza Hut entlang der Bucht in die wellige Tropenlandschaft einschmiegt. Annähernd 7000 Militärs, Angehörige der US-Coast-Guard, Medizin-Personal, zivile Mitarbeiter, viele mit ihren Familien, leben hier. Die Atmosphäre ist entspannt, „Code Orange“ ist von einer anderen Welt. Es beschleicht einen der Verdacht, man sei in einer Fortsetzung der „Truman-Show“ gelandet. In dieser Filmsatire wird ein ahnungsloser Kleinbürger zum Opfer einer Heile-Welt-Show jenseits der realen Welt. Guantanamo Bay wirkt manchmal wie eine militarisierte Version des künstlichen „Seaheaven“.
Die andere Wirklichkeit von Guantanamo Bay liegt hinter einer halbkreisförmigen Hügelkette im Osten des Stützpunktes versteckt. Über den steil zum karibischen Meer abfallenden Klippen steht Camp Delta als weitläufiger Komplex moderner Stahlkäfige mit bald 1000 Häftlingszellen. Als der Kleinbus mit den „embedded journalists“ durch die Straßensperren rumpelt und der Blick auf die in der Sonne metallisch glänzende Anlage frei wird, ist die erste Assoziation die eines Konzentrationslagers in höchster technischer Vollendung, auch wenn dieser Begriff sich hier verbietet, weil er seit Hitlers Holocaust besetzt und Guantanamo kein Todeslager ist. Aber schon von außen ist leicht zu erkennen, dass die Ingenieurskunst bei der Firma Brown & Root, die das Camp in Rekordzeit errichtet hat, auf solide Kenntnisse und Erfahrung baut. Die Firma gehört zum Halliburton-Konzern, der überall im Geschäft ist, wo die Regierung Bush Kriege führt. Vor seinem Wechsel als Vizepräsident ins Weiße Haus hieß der Chef Dick Cheney.
„Welcome inside Camp Delta“, ruft Camp-Superintendent Major Anthony Mendez. Der Weg zu Block Alpha, dem Vorzeigetrakt für Besucher, führt durch drei breite, meterhohe, mit dunkelgrünen Sichtblenden verhängte Sicherheitsschleusen aus verstärktem Maschendraht. Fotografieren ist verboten. Unter einem flachen Satteldach befinden sich links und rechts eines breiten Mittelgangs jeweils 24 karge Zellen. Die Zellenwände bestehen aus Stahlnetz-Elementen. Sie sind von allen Seiten einsehbar, auch für die Gefangenen. Sie dürfen auch miteinander reden, manchmal palavern sie lautstark durch den Block. Wenn die Meeresbrisen ausbleiben und es heiß und schwül wird, werden Ventilatoren angeworfen, die wie große, glänzende Kochtöpfe auf den Dächern sitzen. In den Türen sind in Höhe der Brust und der Fussgelenke Klappen angebracht, zum Anlegen der Hand- und Fußfesseln von außen und zum Hineinreichen der Verpflegung.
Die Käfige sind kaum größer als ein gewöhnliches Doppelbett, haben eine Pritsche mit einer dünnen Matratze, ein im Boden eingelassenes Hockklo „asian style“ sowie ein Waschbecken in Kniehöhe. Mendez bittet in eine Musterzelle: Auf der Pritsche liegen ein Brettspiel, ein Koran, Gebetsutensilien, eine zusammengerollte Gebetsmatte und ein mehrteiliger „Jumpsuit“, wie Mendez die Häftlingskleidung nennt: Unterhose, Hose, T-Shirt, Hemd in leuchtendem Orange. Auf einmal bekommt „Code Orange“ etwas Wirkliches, Greifbares. Aber es fehlen Gesicht und Kontur. Die Taliban und Terroristen, die seit dem 11. September 2001 die Bedrohung dieses Landes verkörpern und in der signalfarbenen Kluft das Camp bevölkern, bleiben für die Journalisten weggeschlossen.
Auch nachts ist das Licht in den Zellenblöcken an. Wer auf seiner Toilette sitzt, darf sich umständlich ein dünnes Tuch vor den Schambereich halten. Die im Mittelgang patrouillierenden Wachen lassen keinen der Insassen länger als 30 Sekunden aus den Augen. Es gibt nicht die geringste Intimität. Nur Anonymität. Die Häftlinge haben keine Namen mehr. Jeder ist nur eine „Individual Serial Number“. In kurzen Abständen werden die Zellen durchsucht. Ein Ausbruch ist unmöglich, erst recht als orangefarbene Zielscheibe.
Genau zwei Jahre ist es jetzt her, dass die Bilder der ersten orangenen Taliban- und Al-Qaida-Verdächtigen in Camp X-Ray, um die Welt gingen. Camp X-Ray wurde nur von Januar bis April 2002 genutzt, es liegt nicht weit von Camp Delta in einer heißen Mulde versteckt. X-Ray hieß es, weil die Drahtgitterkäfige – ähnlich denen im moderneren und größeren Camp Delta – wie auf einem Röntgenschirm „durchsichtig“ waren. Es war unhygienisch und primitiv. Inzwischen überwuchern Schlingpflanzen und Unkraut das Lager, verwandelt die Natur die Zellen in grüne Lauben und überwuchert langsam auch die meterhohen, mit rasiermesserscharfen Stacheldrahtrollen bewehrten Maschendrahtzäune. Leguane, von denen es hier wimmelt, und vor allem Banana-Rats, eine Opossum-ähnliche Art Baumratten, die sich durch alles durchzubeißen verstehen und als echte Plage zu zehntausenden den Stützpunkt terrorisieren, haben sich jetzt als neue Bewohner auf den verlassenen Wachtürmen und in den schattigen Zellen eingerichtet. Und über ihnen kreisen „turkey-voltures“, blutorange-köpfige „Truthahn-Geier“ und halten nach Opfern Ausschau.
Wo Camp X-Ray Vergangenheit ist, wächst Camp Delta in die Zukunft. Es heißt, eines Tages solle es bis zu 2000 Häftlinge fassen können mit einem erweiterten Verhör-Komplex. Für das JTF-Team baute Brown & Roots hurrikanfeste Mannschaftsquartiere. Und das, obwohl seit dem vorigen Jahr der Statistik zufolge immer weniger Orangene aus Afghanistan eintreffen. Gibt es neue, noch geheime Nutzungspläne?
Fünfmal am Tag – das erste Mal um fünf Uhr früh – ruft in Camp Delta der Muezzin vom CD-Player über die Lagerlautsprecher die Moslems zum Gebet, zweimal am Tag, morgens und abends um acht, lässt die amerikanische Nationalhymne die Soldaten strammstehen. Dreimal die Woche 10 Minuten Duschen und 30 Minuten Sport. Ansonsten hocken die Häftlinge in ihren Zellen, lesen im Koran. Sie dürfen sich auch Bücher ausleihen. Post wird streng zensiert. Niemand darf erfahren, was aktuell in der Welt los ist. Nur wenn die Amerikaner es wollen. Zum Beispiel als die Kriege in Afghanistan und Irak „gewonnen“ waren und sie Saddam Hussein „gekriegt“ haben. Da triumphierte es in den Lautsprechertüten. „Nach solchen Meldungen geht die Zahl derjenigen, die beim Verhör kooperieren, immer nach oben“, schwärmt Mendez. Die Verhöre finden zu jeder Tages- und Nachtzeit in 17 Sprachen und 19 Dialekten statt. Der „global war on terror“ kennt in Guantanamo keine Pause. 29 kleine Hafterleichterungen – von der eigenen Plastikflasche Wasser bis zu Extra-Rationen Essen und Extra-Sport mit anderen – werden für jene bereitgehalten, die ihr Wissen preisgeben, egal welches. Die größte Belohnung ist der Umzug ins Camp 4.
Camp 4 liegt auf halbem Weg zur Freiheit. Die derzeit etwa 100 Häftlinge sind dort nicht mehr weggesperrt, sondern zu besichtigen. Mit ihnen zu sprechen ist jedoch verboten. Die Käfige sind hier geschlossene Bungalows mit jeweils vier Zehn-Betten-Zimmern und Außentüren, separierten Toiletten und Duschen. Vor den Häuschen rustikale Picknick- und Freizeit-Areale mit Sonnendach, in denen die Häftlinge vor den Augen der Besucher entspannt und laut schwatzend flanieren. Die Gebetsmatte ist hier ein kleiner orientalischer Teppich und nachts wird das Licht abgedunkelt. Aber vor allem trägt hier keiner mehr orange, sondern, wie in der Heimat, den traditionellen weißen Kaftan. Hier scheint man guter Dinge.
In den Camps 1, 2 und 3 gibt es dagegen viele, die unter Depressionen leiden. Dort dösen sie in völliger Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal vor sich hin. Der Chefarzt des Lagerhospitals, Captain John Edmonson, berichtet, bisher hätten in Camp Delta 21 Personen 34 Selbstmordversuche unternommen, einige also mehr als einmal. Den letzten Selbstmordversuch hat es erst vor ein paar Tagen gegeben. Edmonson gibt zu, dass dies eine hohe Quote ist. Inzwischen wird anders gezählt. Wenn neuerdings jemand versucht, sich das Handgelenk aufzuschlitzen, ist es nur noch eine „sich selbst zugefügte Verletzung“. Das ist dann kein Suizidversuch mehr und besser so für die Statistik.
Es gibt auch Hungerstreiks. Andere rasten einfach aus, rennen mit dem Kopf gegen Zellenpfosten oder rempeln ihre Wärter an, schon auch mal mit dem Kopf voran, schreien und brüllen in ihren Käfigen aus Wut und Verzweiflung. „Zwölf bis 15 Prozent hatten geistige und psychische Probleme als sie hier ankamen“, sagt Doktor Edmonson, ein Chirurg, der ein wenig gequält und müde wirkt. Als ob ihm nicht wohl ist bei dem Ganzen. „Einige leiden auch unter ernsten chronischen Geisteskrankheiten.“ Aber was tun die hier, welchen „geheimdienstlichen Nutzen“ haben die? Wie kommen die überhaupt hierher? „Das müssen Sie den General fragen“, heißt es. Die Einsamkeit, Sehnsucht nach der Familie können irgendwann auch den stärksten Terroristen in die Depression treiben. „Aber andererseits“, so Edmonson, „wissen die: Hier will sie wenigstens niemand umbringen.“ Für einen herzkranken Häftling habe man sogar für 100 000 Dollar eine kardiologische Rettungsstation geleast und samt Team eingeflogen.
Den härtesten Job machen die in vorderster Reihe, die Wärter. Sie kommen von der Militärpolizei, aus der Army oder sind Reservisten der National-Garde. Jeden Tag haben sie mit den Gefangenen Kontakt. „Ungezwungene Gespräche mit den Häftlingen sind jedoch untersagt“, sagt Major Mendez – außer in Camp 4. Gefühle oder gar Mitleid sind tabu. Die 27-jährige Juanita R., Seargent bei Militärpolizei, meint kühl: „Wenn Du anfängst zu glauben, der Typ da ist unschuldig, nur weil er im Käfig sitzt, dann wird er nur versuchen, aus allem einen Vorteil für sich herauszuholen.“ Als Frau hat sie es schwer, von den Häftlingen respektiert zu werden. Für „die meisten“ sei es eine Erniedrigung, „von einer Frau angefasst“ zu werden. „Sie drehen sich weg, wenn ich erscheine.“ Der Job ist nichts für Leute mit schwachen Nerven, zumal man als Soldat die meiste Zeit praktisch auch eingesperrt ist: Im Zellenblock, in den Mannschaftsquartieren. Die Beziehungen zu den Familien leiden. Der Führer einer Infanteriepatrouille erzählt: „Letzten Monat hat sich einer unserer Kameraden umgebracht. Es war wohl zu viel für ihn.“
Trotzdem, General Miller ist mit seiner Truppe zufrieden: „Ich bin stolz auf alles, was in Camp Delta geschieht.“ Gewissensbisse scheint niemand zu haben. Auch deshalb wollen Präsident Bush und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nicht, dass ihnen jemand in ihre „Truman-Show“ auf Guantanamo hineinredet. Sie verfügten, dass die amerikanische Rechtssprechung hier nichts zu sagen haben soll, und die internationale schon gar nicht. Guantanamo Bay sei das „juristische Äquivalent zum Weltraum“ lautete kurz und bündig der Kommentar eines Washingtoner Regierungsmitarbeiters. Höchste Richter, die Bush schon bei der Stimmenauszählung zu seiner Präsidentenwahl freundlich gesinnt waren, meinten auf einmal, weil Guantanamo Bay auf Kuba liege und nur „gepachtet“ sei, falle es leider auch unter die kubanische Jurisdiktion. Ein Zynismus und eine Spitzfindigkeit, über die der alte Patriarch in Havanna nur lachen kann. Aber inzwischen hat „ein Haufen Anwälte“ (Rumsfeld) die Position Washingtons ins Wanken gebracht. Im November vorigen Jahres sprach der Oberste Gerichtshof 16 Guantanamo-Gefangenen das Recht zu, ihre Inhaftierung vor amerikanischen Gerichten anzufechten.
Miller beharrt jedoch darauf, dies hier seien „enemy combattants“, irreguläre, feindliche Kämpfer ohne Uniform. „Unser Präsident hat in seiner Rede am 13. November 2001 dargelegt, was ein ‚enemy combattant‘ ist. Trotzdem gewähren wir ihnen alle Rechte der Genfer Konvention – mit Ausnahme des Rechts, einen Anwalt zu sehen.“ Was viele Angehörige nicht daran gehindert hat, Anwälte zu verpflichten. So auch im Fall des 21-jährigen Deutsch-Türken Murat Kurnaz aus Bremen, der am 3. Oktober 2001 heimlich nach Pakistan geflogen war, um angeblich eine Koranschule zu besuchen und nun in Guantanamo sitzt.
Sind sie nun wirklich alle „enemy combattants“? Bisher sind 88 Gefangene aus Camp Delta entlassen worden. 48 hat man an die Regierungen ihrer Heimatländer überstellt, und die übrigen 40 sind wieder frei. Darunter jener Taxifahrer, der nun behauptet, mit seinen Fahrgästen von Kopfgeldjägern eingefangen und als Taliban an die Amerikaner verkauft worden zu sein. Miller schüttelt milde den Kopf. Was der Mann behaupte, sei „nicht zutreffend“. Na ja, „manche hier sind extrem gefährlich, manche weniger“.
So wie die drei Kinder und Jugendlichen im Alter von 12 bis 15 Jahren, die trotz internationaler Proteste, vor allem des Roten Kreuzes, seit Februar vorigen Jahres hier weggesperrt wurden – allerdings unter humaneren Bedingungen. Ihr „Iguana House“, ein Offiziers-Cottage mit zwei kleinen Appartements und einem großen Rasengrundstück über den Klippen, hat Meeresblick. In die dunkelgrüne Sichtblende vor dem umlaufenden hohen Drahtgitterzaun, ist ein großes Panoramafenster geschnitten. „Zwei dieser Jungen sind in den Terrorismus gekidnappt worden. Aber keiner von ihnen hat gekämpft oder gar einen US-Soldaten getötet“, korrigiert Miller anderslautende Gerüchte. Schon im August drängte Miller Washington, die Jungen zu ihren Familien zurückzuschicken. Im Januar saßen die drei aber immer noch im „Iguana House“. Warum? Weil der Oberste Befehlshaber George W. Bush hart sein wollte. Immerhin haben die drei einigermaßen lesen, schreiben und rechnen gelernt. Aber sie haben in dieser Zeit auch 49 Sportbälle über den sehr hohen Zaun ins Meer befördert. Aus Wut, weil sie lieber zu Hause in Khandahar kicken würden?
Es wäre ein Missverständnis zu glauben in Guantanamo sollten Terroristen „resozialisiert“ werden. Der Hauptzweck des Unternehmens ist, wie General Miller zugibt, „das Sammeln von taktisch, operationell und strategisch relevanten Geheimdienstinformationen, um den USA und ihren Alliierten zu helfen, den globalen Krieg gegen den Terrorismus zu gewinnen“. Amerikanische Medien berichten immer öfter, der Ertrag sei für die Terrorbekämpfung in Wahrheit kaum von Nutzen. Die Befragungsteams seien zu jung und unerfahren. Manche Häftlinge erzählten ihnen das Blaue vom Himmel oder nur das, was diese hören wollten, bloß, um in den Genuss einiger Privilegien zu kommen. General Miller muss das natürlich anders sehen, sonst machte nämlich die gigantische „Mission“ auf Guantanamo keinen Sinn mehr: „Die Erkenntnisse, die wir gewinnen, sind enorm. Allein im letzten Monat konnten wir 300 hochsensible Informationen zusammenfügen.“ Und wie? „Wir wenden jedenfalls keine physischen Techniken an, keinen Schlafentzug, auch keine Medikamente“, versichert Miller. Vielleicht sitzen deshalb die wirklich „dicken Fische“, echte Drahtzieher des 11. September wie Ramzi Binalshibh oder Chalid Scheich Mohammed, nicht hier.
Unterdessen tickt Bushs „Clockwork Orange“ weiter, treiben er und das Pentagon den Plan voran, in Guantanamo bald Militär-Tribunale abzuhalten. Miller spricht von sechs Fällen, die verhandlungsreif seien. Das Militär will Pflichtverteidiger stellen. Kosmetik, denn die Beschuldigten bleiben dennoch ohne Rechte. Das Verfahren wäre eine rechtsstaatliche Farce auf dem Niveau früherer mittelamerikanischer Diktaturen. Im Strafkatalog ist ausdrücklich auch die Todesstrafe vorgesehen. Sollte sie verhängt werden, ist die Frage, wo und wie sie vollstreckt werden soll. „In Guantanamo gibt es keine Todeszelle, und es ist auch keine Todeszelle geplant“, betont General Miller. Wenn es anders wäre, bräuchte man auch noch einen Henker. Denn der einzige „Henker“, den es bislang auf Guantanamo Bay gibt, ist ein harmloser Wildhüter. Zu seinem Job gehört es, wie der Stützpunkt-Chef und Bürgermeister Captain McCoy beiläufig erzählt, die von Helfern mit einem orangefarbenen Punkt auf dem Fell markierten Banana-Rats zu beseitigen. Im vorigen Jahr waren dies laut McCoy ungefähr 26000, die Hälfte der sich beängstigend schnell reproduzierenden Population.
Die geplanten Militärtribunale in der US-Exklave beunruhigen weltweit Juristen und Regierungen, die sich dem demokratischen Rechtsstaatsprinzip verpflichtet fühlen. Es muss schon viel passieren, ehe sich einer so äußert wie Lord Johan Steyn, einer der zwölf höchsten Richter in Großbritannien. Es ist schockierend, dass Präsident Bush „im Vorhinein seine persönliche Ansicht über die Gefangenen…publik gemacht“ und „sie alle als ‚Killer‘“ bezeichnet hat. In der „International Herald Tribune“ sprach er von einem „monströsen Scheitern des Rechts“. Doch Präsident Bush glaubt, für alles, was er tut, die Mehrheit seines Volkes hinter sich zu wissen.
Auf dem langen Weg nach Guantanamo Bay las der Passagier Nummer VS206804PRC000 in Alexis de Tocquevilles 1835, mithin also vor 170 Jahren veröffentlichtem Standardwerk „Über die Demokratie in Amerika“. Darin schrieb der damals erst 30-jährige französische Jurist, der zu den klügsten Analytikern seiner Zeit gehört, nach einer langen Amerikareise: „In den Vereinigten Staaten hat…die Mehrheit eine enorme…Macht der Überzeugung; und sobald über eine Frage die Mehrheit erst einmal zustande gekommen ist, gibt es nichts, was ihren Gang hemmen, geschweige denn zum Stillstand bringen könnte, nichts, was ihr Zeit ließe, die Klagen derer anzuhören, die sie auf ihrem Wege zermalmt… Sobald ich daher sehe, dass man das Recht und die Möglichkeit, schlechthin alles zu tun, irgendeiner Macht zugesteht, man mag sie nun Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennen…, sobald ich das sehe, sage ich: Das ist der Keim zur Tyrannei.“
Nachdruck nur mit Genehmigung des Autors
Copyright by Volker Skierka
Der Beitrag ist in gerkürzter Form - unter anderem - auch erschienen in: Frankfurter Rundschau, Stuttgarter Zeitung, Sächsische Zeitung, Badische Zeitung, Kölner Stadtanzeiger, Der Standard (Wien), Hamburger Abendblatt
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