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Castro - Graphic Novel / Comic
von Reinhard Kleist, mit einem Vorwort von Volker Skierka
280 Seiten, Hardcover, farbig, Deutschland: € 16,90 / Oesterreich: € 17,40 / Schweiz: sFr 30,90, Erscheinungsdatum: 1. Oktober 2010, Carlsen Verlag, ISBN 978-3-551-78965-5
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Marta Feuchtwanger Copyright Volker Skierka
Ein Don Quijote gegen Dummheit und Gewalt
Einstündiges Radio-Feature von Volker Skierka für NDR-Kultur aus Anlass des 50. Todestages am 21. Dezember 2008 und des 125. Geburtstages des deutsch-jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger am 7. Juli 2009 sowie ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Literaturexperten Prof. Fritz J. Raddatz.

Der Freund und Weggefährte von Bertolt Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Arnold Zweig sowie anderen literarischen Zeitgenossen zählte zu den ersten, den die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung Hitlers ausbürgerten. 1933 zog der Verfasser historischer Romane wie „Jud Süß“, „Erfolg“, „Der jüdische Krieg“ und „Goya“ zunächst nach Sanary-sur-mer an der französischen Mittelmeerküste. 1940, nach dem Überfall Deutschlands auf Frankreich, mußte er er unter dramatischen Umständen in die USA fliehen. „Die Dummheit der Menschen ist weit und tief wie das Meer“, schrieb er 1933 in einem Brief an Zweig. Seine Arbeit widmete der linksbürgerliche Romancier dem – vergeblichen - Kampf der Vernunft gegen Dummheit und Gewalt. Volker Skierka, Journalist und Biograf Feuchtwangers, zeichnet dessen Leben anhand von Dokumenten, Interviews und – bislang unveröffentlichter - Tonbandaufnahmen zahlreicher Gespräche nach, die der Autor einst mit Feuchtwangers Witwe Marta und seiner Sekretärinnen Lola Sernau führte.
(Mehr unter Menüpunkten "Publikationen / Lion Feuchtwanger" sowie "Villa Aurora")

Konzentrationslager Birkenau (Auschwitz). - Text und Fotos: Volker Skierka
Weiße Flecken, dunkle Geschichte
Aus: Der Tagesspiegel, 20. Jan. 2006

80 Jugendliche, Deutsche und Polen, auf der Suche nach der Wahrheit, die die Nazis unterdrückt haben. Versuch einer Versöhnung

Alles ist wie in Watte gebettet. Der Schnee liegt hoch, die Bäume und der doppelte Stacheldrahtzaun sind weiß überpudert. In klirrender Kälte passieren die polnischen Germanistik-Studentinnen Kasia Król und Maria Mrówca das weit geöffnete Tor unter dem Schriftzug „Arbeit macht frei“. Es ist früh am Tag. Man ist allein im ehemaligen Menschen-Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau. Stumm, in sich gekehrt und ziellos gehen die jungen Frauen durch die einsamen Lagerstraßen, stehen in einer der ehemaligen Gefangenen-Unterkünfte plötzlich vor einer 20 Meter langen Glaswand, hinter der zwei Tonnen Menschenhaar liegen. Es konnte wegen der Befreiung des KZs nicht mehr an die Textilindustrie geliefert werden.

Kasia, die große, schlanke Dunkelhaarige, ist 21 Jahre alt, Maria, etwas kleiner und blond, ist 23. Ihre Gesichter sind wie versteinert. Draußen sagt Kasia nur: „Wenn man daran denkt, dass viele der Täter und der Opfer in unserem Alter waren …“ Dann nimmt Maria den Faden auf und sagt: „Ich glaube, es ist wichtig für die Deutschen, dass Menschen anderer Nationen mit ihnen darüber sprechen.“
In dem massiven roten Backsteinbau mit der Nummer 24, wo das Archiv jenes Ortes untergebracht ist, haben Kasia und Maria mit drei Kommilitoninnen und einem Kommilitonen von der Universität des 60 Kilometer entfernten Krakau mit einem einzigartigen deutsch-polnischen Geschichtsprojekt begonnen.

Die Studenten forschten nach Lücken und Manipulationen in der seit dem Überfall Hitlers auf Polen 1939 gleichgeschalteten Lokalpresse. Diese „weißen Flecken“ in der offiziellen Berichterstattung, versuchten die Studenten 60 Jahre nach Kriegsende mit Wahrheiten zu füllen. „Hunderte von dicken Bänden, Tagebücher und Dokumente, liegen hier“, sagen sie. „Wir haben einfach einige herausgegriffen, darin geblättert und gelesen. Das war der Anfang.“
Herausgekommen ist dabei aber nicht eine neue Arbeit über den Massenmord von Auschwitz, sondern eine Untersuchung über ein nahezu unbekanntes Thema – über den damals weitverzweigten und oft tödlichen Widerstand der gut organisierten polnischen Pfadfinderbewegung und deren Untergrundpresse im Raum Krakau...
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Volker Skierka: "Armin Mueller-Stahl - Begegnungen. Eine Biografie in Bildern."
216 Seiten gebunden, €39,90, erschienen im Oktober 2002 im Knesebeck Verlag München, ISBN 3-89660-139-3
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  E-Mail an Volker Skierka
 
TEXT Wo die Welt zu Ende ist

Wo die Welt zu Ende ist
 
Wüste, Vulkane und Wein - Chile ist 4300 Kilometer lang und reicht von heiß bis Eis.
 
Audi - Das Magazin Nr.2, Juni 1999


Eingezwängt zwischen Andenhauptkamm und Pazifik, fast am Ende der Welt, liegt Chile, von seinem großen Dichter Pablo Neruda "das dünne Land" genannt. 4300 Kilometer lang und traumhaft schön reicht es von der trocken-heißen Atacama-Wüste im Norden bis zu den Fjorden und eisigen Gletscherfeldern des windzerzausten Patagonien im Großen Süden. Dazwischen liegt Zentralchile und der Kleine Süden, die chilenische "Provence" mit ihren großen Weinanbaugebieten und weiter die fruchtbare "Schweiz" des Landes. Mittendurch zieht sich die Panamericana, die von Alaska nach Feuerland reichende Traumstraße der Welt. Das 1000 Kilometer lange Teilstück von der chilenischen Hauptstadt Santiago bis nach Puerto Montt führt zunächst durch eine fruchtbare Gegend mit einem trocken mediterranen Klima und geht später über in eine sattgrüne, wald- und seenreiche, Voralpenlandschaft am Fuße einer Kette gewaltig aufragender, schneebedeckter Vulkangipfel. Dieser Kleine Süden ist eine Region, die in ihren Traditionen, ihrer Architektur, ihrem gesellschaftlichen Miteinander geprägt ist von einer in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts stehengebliebenen Zeit.

1. KM 60: Santiago und Valle Nevado

Die von dem spanischen Conquistador Pedro de Valdivia im Jahre 1541 unter dem Namen Santiago del Nuevo Extremo gegründete Hauptstadt, ist heute, wie der Schriftsteller und Drehbuchautor Antonio Skarmeta schrieb, "eine Mischung aus Miami und Kastilien, Jaguar und Ochsenkarren". Eine Stadt, "in der aller Moden und Stile ihre Spuren hinterlassen haben, anarchisch wahnwitzig, ohne jeden ordnenden Plan." Diese Metropole kenne keine urbanistischen Gesetze. "Hier verstecken sich Häuser aus der Kolonialzeit zwischen postmodernen, verchromten Bauten, stehen einfache Läden neben keimfreien Supermärkten, sind Fortschritt und Verfall Nachbarn." Santiago ist eine pulsierende Metropole von sechs Millionen oder mehr Einwohnern, die trotz ihrer neu aufragenden Glitzerfassaden inmitten alter, beschaulicher Viertel ihren provinziellen Charakter beibehalten hat. Ihre einst idyllische Lage in 700 Metern Höhe auf einem Plateau zwischen den Anden und der Küstenkordillere ist dem explodierenden Aufschwung allerdings nicht mehr gewachsen. Nur noch selten hebt sich die giftbraune Smogglocke über der Boomtown und gibt den faszinierenden Blick auf die majestätisch aufragenden 5000er Andengipfel frei.

Was den Reiz der Stadt für ihre Bewohner wie für die Besucher heute ausmacht, sind die Fluchtwege. Einer führt knapp 60 Kilometer nach Südosten in den Cajón del Maipo, tief hinein in das Tal des Rio Maipo, dem ältesten Weinanbaugebiet Chiles. Von einer "Alpenhütte" aus geht es weitere 25 einsame Kilometer auf einer Staub- und Schotterstraße durch karge Landschaft entlang des Rio El Volcán. Am Ende der Straße belohnen die heißen Schwefelquellen der Banos de Colina, nur wenige Kilometer von der argentinischen Grenze entfernt, mit einem herrlich entspannenden Bad.

Ein anderer "Fluchtweg" verläuft vom Stadtzentrum 60 Kilometer nach Osten durch das Tal des El Arrayan, eine gute Stunde die steile Serpentinenstraße hinauf nach Farrellones und Valle Nevado. Und schon ist man inmitten eines luxuriösen Skiparadieses in 3000 Metern Höhe mit Abfahrten, die auch immer mehr Skifahrer aus Europa verlocken, ihren Sommerurlaub im chilenischen Winter und Frühling zu verbringen. Nur wenig abseits vom Pistenrummel und vor allem außerhalb der Saison findet man hier absolute Oasen der Stille und einen unendlich weiten Himmel, unter dem die Kondore majestätisch ihre Kreise ziehen.

2. KM 120: Vina del Mar und Valparaiso

Besonders schick ist es, am Wochenende des morgens zum Skizirkus die Anden hoch zu kurven und nach dem Mittagessen auf der Schnellstraße um Santiago herum in das anderthalb Autostunden westlich von Santiago gelegene Vina del Mar, dem südamerikanischen Cannes oder Nizza zu fahren, oder von hier aus noch eine Stunde weiter die Küstenstraße in Richtung Norden nach Zappallar oder Papudo, dem chilenischen St. Tropez. Hier verbringen die Schönen und Erfolgreichen die Zeit im eigenen Haus mit der statusträchtigen Großfamilie oder in einem der teuren Prachthotels, zeigt sich an einem der langen Strände in der Sonne, in den teuren Restaurants, spielt Golf und setzt abends im Casino von Vina ein paar der fetten Aktiengewinne der letzten Jahre auf rot oder schwarz.

Das ansonsten eher langweilige Vina del Mar ist wie ein großer, protzender Vorort der übergangslos angrenzenden, auf sieben oder mehr Hügeln erbaute Valparaiso. Ihre große Zeit hatte die legendäre mythen- und geschichtenbesetzte Hafenstadt bis zur Fertigstellung des Panama-Kanals, der den Seeweg in den Pazifik um die Spitze Südamerikas überflüssig machte. Heute ist sie eine betagte Sehenswürdigkeit, geschminkt mit der Patina der verwitternden Pracht einer großen weiten Welt, die einst hier vor Anker ging. Das ehemals so verheißungsvolle Valparaiso, mit den alten Lagerhäusern, den nippesbeladenen Spelunken voller abgestandener Seemansträume, ihren altertümlichen, die Hänge zu den britisch gestylten Kapitänsvierteln und den Restaurants mit Panoramablick hinaufrumpelnden und -gleitenden Schrägaufzügen und Seilbahnen, ist nicht nur etwas für maritime Spurensucher. Es ist heute das gemächliche Kontrastprogramm zum hektischen und oberflächlichen Santiago. Seit dem Ende der Diktatur versucht man vom neuen Kongreßgebäude aus den Chilenen die Demokratie wieder nahezubringen: Valparaiso ist seit 1990 der Sitz des von Diktator Pinochet hierher verbannten Parlaments.

Der andere Teil der chilenischen Cote d' Azur liegt südlich von Valparaiso zwischen Algarrobo und den Rocas de Santo Domingo. Die schönste Strecke von Valparaiso aus zweigt etwa zehn Kilometer hinter Valparaiso bei Las Tablas von der Schnellstraße nach Santiago in Richtung Quintay ab und führt über etwa 40 Kilometer eine wenig befahrene Backroad entlang. Bei schlechter Witterung sollte man allerdings unbedingt die etwas weitere, asphaltierte Strecke über Casablanca benutzen. Die Fahrt an diesen Küstenabschnitt lohnt allein wegen eines Besuchs in dem zu einem Museum hergerichteten pittoresken Haus des Dichters und Strandgut-Sammlers Pablo Neruda in Isla Negra an der Pazifikküste (einfache vorherige telefonische Anmeldung in der Fundación; siehe Kasten).

3. KM 130: Hacienda Los Lingues

Das Zentraltal zwischen Anden und Küstenkordillere entlang der Panamericana-Sur ist bis hinunter in die 500 Kilometer südlich der Hauptstadt gelegene Region des Bío-Bío-Flusses so etwas wie die chilenische Weinstraße. Schon 1541 pflanzten die Spanier rund um ihre Siedlung Santiago die ersten Reben der dunklen País-Traube, damit ihre vom Staub und Blutdurst des Eroberns ausgedörrten Kehlen und Gaumen den Geschmack der Heimat nicht vermissen mußten. Für die aus den Conquistadoren hervorgegangene und als Minenbesitzer reich gewordene chilenische Aristokratie war es bald ein Statussymbol den Wein aus eigenen Bodegas zu trinken. Die Namen der besten und berühmtesten Güter von einst gibt es immer noch: Concha y Toro, Errázuriz, Cousino Macul, Santa Rita, Tarapacá, Undurraga, Los Vascos, Santa Monica. Das für den Weinanbau ideale Klima und die Lehm- und Schwemmböden ließen die zum Teil noch heute tragenden Sorten Torontel, Mollar und vor allem den Muscateller so gut gedeihen, daß das spanische Königshaus im 18. Jahrhundert zum Schutz der heimischen Winzer sogar ein Exportverbot verhängen ließ.

Nach dem Maipo-Tal ist die Rapel-Region bis hinter San Fernando, gut 150 Kilometer südlich von Santiago das älteste Weinanbaugebiet des Landes. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kamen schließlich französische Rebsorten wie Cabernet-Sauvignon, Merlot, Sémillon, Sauvignon-Blanc, Chardonnay und mit ihnen die ersten Önologen aus Bordeaux ins Land. Abseits der Straße laden, oft versteckt, die wunderschönen alten Landgüter zur Weinprobe ein. Auf einigen werden seit Generationen Weine erzeugt, die inzwischen als erstklassige Spitzenweine den französischen "Originalweinen" auf den eigenen europäischen Märkten und in den USA harte Konkurrenz machen. Allerdings sollte, wer im Auto zum Weinverkosten anreist und anschließend auf der unfallträchtigen Panamericana aufmerksam und geistesgegenwärtig weiterfahren will, beim Süffeln zurückhaltend sein.

Besser ist es, die Weine der Gegend beim Abendessen auf der Hacienda Los Lingues zu genießen. Dieses Hotel allein ist schon die Anreise von Santiago wert. Das prachtvolle Anwesen im Kolonialstil, in dem so ziemllich alles seit Generationen echt und alt ist, ist das einzige Haus der internationalen First-Class-Hotel und -Restaurant-Kette Relais & Chateau in Chile. Seit der König von Spanien das Gut vor genau 400 Jahren im Jahre 1599 dem einstigen Bürgermeister von Santiago Melchor Jufré de Aguila für dessen Chronistendienste zum Geschenk gemacht hatte, berfindet es sich im Familienbesitz. Der Gast wird so sehr eingefangen von den angenehmen Seiten der kolonialen Nostalgie, daß ihm die Abreise schwer fällt. Das aus Lehmziegeln Herrenhaus ist umgeben von einem Park mit Moorhühnern, Fasanen und Pfauen und auch in den zahlreichen Innenhöfen sind exotische Gärten angelegt. Das Essen ist nach Rezepten zubereitet, die seit Generationen weitergereicht wurden. Unter Pferdeliebhabern ist die Hacienda Los Lingues berühmt für die erste Aufzucht von Vollblütlern in Amerika. Seit 1760 werden hier reinrassige Acuelo-Pferde gezüchtet.

Vom Gut aus lassen sich ausgedehnte Ausflüge unternehmen. Ausritte in die Berge ebenso wie ein Besuch beim Rodeo, dem zwischen September und Mai praktizierten chilenischen Nationalsport. Im 60 Kilometer entfernten Rancagua findet alljährlich Ende März die chilenische Rodeo-Meisterschaft statt. Bei dieser Sportart müssen die stolzen Huasos, die chilenischen Cowboys in ihren bunten Ponchos, dunklen Nadelstreifenhosen und breitkrempigen, gebügelten Sombreros auf ihren stämmigen chilenischen Pferden, den Corrraleros, vor einer johlenden Menge in wildem, gekonnten Galopp zu zweit einen Stier in einem Rund an die Wand drücken und in die Knie zwingen. Brutalität gegenüber dem Tier wird mit Punktabzug bestraft.

4. KM 519: Concepción

Je weiter die Fahrt nach Süden geht, desto tiefer führt die Strecke in das Chile der Mapuche-Indianer und der Pioniere. Am Straßenrand verlocken große traditionelle Kunsthandwerkermärkte zum Anhalten, wie in Chimbarongo oder Talca. Viele Chilenen fahren bis hierher, um geflochtene Möbel, Gezimmertes und Geschnitztes und Töpferwaren für ihre Häuser und Wohnungen einzukaufen. Die wahre Schönheit der vorüberziehenden Landschaft zeigt sich aber nur dem, der bereit ist die Panamericana zu verlassen. Beispielsweise bei Curico Richtung Westen am Nordufer des Río Mataquito entlang, 85 Kilometer nach Hualane und weitere 50 Kilometer bis Vichuquen, einer abgelegenen, bereits im 15. Jahrhundert von den aus Norden bis tief ins Mapucheland eingedrungenen Inkas kolonisierten Siedlung. Um die vorige Jahrhundertwende scheint hier die Zeit endgültig stehengeblieben. Am Nordoststrand des Sees lädt das Hotel Brujas del Lago (Hexen des Sees) an dem von Kiefernwäldern umgebenen Vichuquen-See zum Übernachten und zu Exkursionen ein. Über Iloca und Curepto führen kleine Straßen nach Talca und zurück auf die Panamericana.

In Talca, an der Ecke 1 Norte esquina 2 Oriente steht die "Wiege des freien Chile". In diesem zum Museum umgewandelten Haus der schönen Künste lebte zwischen seinem 4. und 10. Lebensjahr der spätere Befreier des Landes von der spanischen Herrschaft, Bernardo O'Higgins. Zwischen 1813 und 1814 war das Haus vorübergehend Sitz einer patriotischen Junta. Von den Spaniern noch einmal besiegt und nach Argentinien vertrieben, kehrte O'Higgins 1817 zusammen mit José de San Martín an der Spitze einer Armee über die Anden zurück und schlug die Spanier endgültig in die Flucht. Am 2. Februar 1818 billigte und unterschrieb O'Higgins in den Räumen des Hauses seiner Kindheit den Entwurf für die Unabhängigkeitserklärung.

Weiter geht die Reise durch Landschaft und Geschichte 260 Kilometer weiter in das malerisch an der Mündung des Bíobío-Flusses gelegene Concepción, wo O'Higgins am 1. Januar die 1818 auf der heutigen Plaza de la Independencia die Unabhängigkeit Chiles von der spanischen Krone ausgerufen hatte. 1550 wie neun Jahre zuvor Santiago von ihren Traditionen em Conquistador Pedro de Valdivia gegründet, war die Stadt zwischen 1565 und 1573 als Sitz der Königlichen Audienz die Hauptstadt der Kolonie. Mehrmals in ihrer Geschichte wurde sie durch Mapucheüberfälle und verheerende Erdbeben in den Jahren 1751, 1939 und 1960 zerstört.

Der Weg nach Concepción führt etwa 90 Kilometer südlich von Talca an der kleinen Stadt Parral vorbei, die heute weniger als Geburtsort von Pablo Neruda bekannt ist, sondern vielmehr durch die 40 Kilometer südöstlich gelegene berüchtigte Colonia Dignidad, zu der von Parral aus eine einsame Straße abzweigt. Das abgelegene, riesige, bis an die argentinische Grenze reichende Areal einer durch Kindsmißbrauch aufgefallenen deutschen Sekte diente während der Diktatur dem chilenischen Geheimdienst als Zentrum für Folter und Mord. Nach langer Zeit bequemten sich auch die chilenische Polizei und die Justiz, die Colonia ins Visier zu nehmen. Seit geraumer Weile ist sie im Fadenkreuz eines chilenischen Untersuchungsrichters, der von Parral aus operiert. Auch wenn die Neugier und die Landschaft zu einem Abstecher reizen, sollte man sich auf keinen Fall in Richtung der Kolonie wagen. Die Colonia Dignidad, die längst ein Wirtschaftsunternehmen ist und deshalb viele Freunde in dieser Gegend hat, wußte in der Vergangenheit stets mit modernster Technik unwillkommene Besucher im Auge zu behalten und sich ihrer gegebenenfalls auch mit brachialer Gewalt zu erwehren. Weniger gefährlich, aber irgendwie etwas unheimlich ist die Einkehr in das deutschtümelnde bayerische Restaurant der bizarren Colonia, 80 Kilometer weiter südlich, nahe der Stadt Bulnes. Hier, ein paar Kilometer abseits der Straße nach Conceptión, gibt es in einem architektonisch dem Münchner Olympiastadion nachempfundenen Restaurant Leberkäse, Weißwürste und sonstige weißblaue Schmankerl - solange man keine unpassenden Fragen stellt. Doch wer den Nervenkitzel nicht braucht, sollte gleich daran vorbeifahen und in Conceptión übernachten.

5. KM 677: Temuco

Gut 30 Kilometer vor Los Angeles passiert die Panamericana den malerischen Wasserfall Salto del Laja, eine Touristenattraktion am Wegesrand mit dem üblichen Besichtigungs-, Vermarktungsrummel und Souvenierrummel. Die Kaskaden markieren zugleich den Übergang in eine andere Welt: in die Region La Frontera, das Grenzland. Von hier aus ging und geht es nun immer tiefer ins alte Indianerland, in die Kernregion der Mapuche, des "Volkes der Erde", zwischen dem Bíobío-Fluß bei Concepción und dem Rio CalleCalle, 400 Kilometer weiter südlich bei Valdivia. Das landschaftlich zu den faszinierendsten und atemberaubendsten Landstrichen Chiles gehörende Gebiet ist vergleichsweise etwa so groß wie Nordrhein Westfalen. Die 450jährige Geschichte der Erfahrungen der Mapuche mit der europäischen Zivilisation ist eine Geschichte der Gewalt, die in den Legenden und Mythen der zahlreichen Nachkommen weiterlebt. Die Araukaner, wie die Ureinwohner auch genannt wurden, erwarben sich im Kampf gegen die Habgier des weißen Mannes den Ruf als der kriegerischste, hartnäckigste und widerstandsfähigste aller Indianerstämme auf dem amerikanischen Kontinent.

Der Kampf, den die Spanier und nach ihnen die Herren der neuen Republik hier gegen die "Indianer-Guerilla" führten, war eine der teuersten, aufwendigsten und längsten militärischen Operationen in der Neuen Welt. Der "Krieg in Arauco" dauerte 350 Jahre und wurde auf grausamste Weise geführt. Einer der ersten, die dies zu spüren bekamen, war der Eroberer und Gründer von Santiago, Concepción und Valdivia, Pedro de Valdivia. Ihn fingen die Indianer 1553 bei Concepción ein, banden ihn an einen Baum und flößten ihm geschmolzenes Gold in die Kehle, um seinen Appetit auf das glänzende Edelmetall auf ewig zu stillen. Lautaro, ein entflohener Indianersklave, der es bis zum Pagen bei Valdivia gebracht und dabei die Kampftechniken der Eroberer genau studiert hatte, sollte schließlich der gefährlichste Feind der Spanier werden. Der Häuptling der Häuptlinge, der später unmittelbar vor einem Sturm der Mapuche auf Santiago selbst verraten und ermordet wurde, entwickelte eine Guerilla- und Kampftaktik mit der sich die Mapuche die folgenden 300 Jahre behaupten konnten. Erst 1881 gelang es der Regierung in Santiago, sich das Indianergebiet untertan zu machen.

Gegen Ende des langen Kampfes erlaubten sich die Mapuche allerdings noch einen bizarren Streich gegen die neue Herrschaft in Santiago: Sie kürten 1860 einen mit ihrem Häuptling befreundeten sympathischen 35jährigen französischen Kleinbauernsohn aus der Dordogne, Orélie-Antoine Tounens, zu ihrem König. Der einstige Provinzanwalt erarbeitete sofort eine Verfassung für "La Nouvelle France" hinter den Anden aus, führte die konstitutionelle Monarchie ein und ließ die Trikolore neben der blau-weiß-grünen Flagge Araukaniens flattern. Die Chilenen waren außer sich. Durch Verrat seines Dieners fingen sie den Störenfried ein, warfen ihn ins Gefängnis, erklärten ihn für verrückt und schoben ihn schließlich nach Frankreich ab. Dreimal noch versuchte Orélie-Antoine I. in sein Königreich zurückzukehren. Es sollte ihm nicht vergönnt sein. Bis 1878 schließlich fristete der König der Mapuche und aller patagonischen Indianer in seinem Heimatort Tourtoirac ein Dasein als Gaslaternenanzünder ehe er in die ewigen Jagdgründe einging. Seine Fangemeinde aber lebt bis heute fort und stellt fortwährend Restituierungsansprüche: in Frankreich, in den USA, im Internet und in "seinem" Volk. Und die Mapuche leben fort in dem Heldenepos "Araukania" in dem der spanische Dichter Alonso de Ercilla im 16. Jahrhundert nach den Worten seines großen Nachfahren Pablo Neruda "einen Lichtstrahl auf die Taten und die Menschen unseres Araukanien" richtete.

Noch heute sind die Mapuche ein stolzes Volk, das in vielen seiner überlieferten Traditionen fortlebt. Manche Bräuche hat es auch weitergegeben an die winkas, wie die Nicht-Indianer hier heißen. "Winka" steht für die Fremden, den Eindringling, den Dieb. Auch wenn er als Freund kommt, ist er erst einmal ein Winka. Temuco, die Stadt mit den höchsten Niederschlägen in ganz Chile, ist unverkennbar die Hauptstadt der Mapuche. Auf dem mercado central , am Bahnhof, überall im Stadtbild sind sie in ihren traditionellen Gewändern, Sitten und Gebräuchen und mit ihrem Kunsthandwerk unübersehbar. Sie haben den Alltag so sehr geprägt, daß sie aus den chilenischen Nachbarn Mapuche gemacht haben, in ihren täglichen Lebensgewohnheiten und bis in die Landesküche hinein. Schließlich haben sie ihre einstigen Eroberer geschickt unterwandert: zwischen zwei Drittel und drei Viertel der rund 14 Millionen Chilenen haben indianisches Blut in ihren Adern.

Die traumhaften und grandiosen "Jagdgründe" der Mapuche sind heute Touristengebiete. Einer der schönsten Umwege nach Temuco führt nördlich davon bei Victoria nach Osten über eine 190 Kilometer lange Schlaufe durch den Conguillio-Nationalpark mit seinen jahrtausendealten Araukarien-Wäldern. Die zur Kategorie "Freiheit und Abenteuer" gehörende Strecke verlangt vom Fahrer Mut und die Bereitschaft, fernab von Helfern und Pannendiensten wackelige, schmalspurige Holzbrücken zu überwinden und löchrige Schotterstraßen zu bewältigen. Schließlich gerät man in einen Urwald der Giganten mit jahrtausendealten Bäumen. Die Piste führt vorbei an idyllisch gelegenen Seen und durch schwarze Lavafelder, ehe das lärmende und laute Temuco erreicht ist. Ein anderer, weniger abenteuerlicher Rundweg führt westlich der Panamericana von Temuco über Carahue, Galvarino, Percuenco und Pillanlelbún durch Bilderbuchlandschaften, die einen Vorgeschmack auf das geben, was den Reisenden weiter südlich erwartet.

KM 1016: Puerto Montt

Das Seengebiet südlich und südwestlich von Temuco ist wie eine nostalgische Filmkulisse. Zu jeder Jahreszeit zaubern der Himmel, die Wolken und das tiefblau-gelb-orangene Licht Landschaftsbilder von grandioser Reinheit und Unberührtheit. Sattgrüne Weiden mit grasendem Vieh und goldgelbe Getreidefelder bedecken liebliche Hügellandschaften, die durchzogen sind von Bretterzäunen. Dazwischen verstreut, rustikale Weiler mit schindelgedeckten Holzhäusern mit Milchkannen vorn am Tor, gackernden Hühnern und schnatternden Enten im Hof. Ochsenkarren und Pferdewagen, die über butterblumengesäumte Kieswege knirschen. Wenig Autos. Im Hintergrund ruht still und tiefblau der See, mit kleinen Inseln eingesprenkelt und eingefaßt von immergrünen Urwäldern, mit klar sprudelnden Gebirgsbächen, satt an Lachsforellen. Dahinter türmt sich die endlose Einsamkeit der gewaltigen, zerklüfteten und schneebedeckten Vier- und Fünftausender unter kobaltfarbenem, wolkenbetupftem und des nachts sternenübersätem Himmel auf. Kein Dreck trübt die reine, klare und würzige Luft. Heu und Gras duften frisch nach Heu und Gras. Und wenn die Sonne verdunkelt wird, Unwetter sich zusammenbrauen und entladen, Wasserfluten sich aus fetten, drohend dunklen Wolken ergießen über das endlose ewig scheinende Idyll, erzeugt sich im Betrachter hinter den Scheiben, in der warmen, ofenbeheizten Stube das wohlige Gefühl sorgenfernen, zeitlosen Daseins. Nach dem Regen betören die aus den Wiesen und Wäldern aufsteigenden Dampfschwaden, die tausenderlei Gerüche und Düfte einer unbelasteten Natur die Sinne und wecken den Wunsch, einfach hierbleiben zu wollen und diesen gelebten Traum nicht mehr loslassen zu müssen.

So ist es rund um den Lago Villarica, den Lago Calafquen, den Lago Panguipulli, den Lago Rinihue, den Lago Ranco, den Lago Puyehue und Rupanco und den größten ganz im Süden, den Lago Llanquihue, hinter denen sich ausgedehnte Naturschutzgebiete die Gebirgshänge hinaufschieben. Hier ist das Land, wo viele Einwanderer aus Deutschland seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ihre in der Revolution von 1848 verlorenen Träume von Freiheit wahrzumachen versuchten. Von Valdivia, der hübschen kleinen Hafenstadt am Pazifik, schwärmten sie aus in das fast unberührte Land, machten es urbar und bestanden in zahllosen Abenteuern den Überlebenskampf gegen Indianer und Natur. Für viele dieser Einwanderer und ihre Nachkommen endet die Erinnerung an die deutsche Heimat auch heute noch zu Kaisers Zeiten oder verschwimmt in der Zeit des "Dritten Reiches". Altertümliche deutsche Tugenden werden hochgehalten und gepriesen. Dabei sprechen hier immer weniger die deutsche Sprache. Worte wie "Kuchen", "Sauerkraut" und "Wurst" sind längst hispanisiert. Inzwischen frißt sich der Tourismus immer weiter bedrohlich in die Landschaft, in die Köpfe und die Herzen und bedroht zunehmend dieses Idyll. Immer mehr Fremdenverkehrszentren krallen sich in der Natur fest. Die Verwandlung des einst mondänen Urlaubsortes Pucón am Lago Villarica in einen Freizeit- und Erlebnispark zeigt warnend die Stoßrichtung der neuen Zeit an.

Noch ist dieses Stück Erde zwischen Temuco und Puerto Montt sowie drüben auf der Insel Chiloe mit ihren vielen buntbemalten Kirchen größtenteils ein fast unwirklicher Naturpark. Eine Weile noch wird sie angehalten bleiben, wird immer noch die Natur die Gesetze des Marktes dominieren. Puerto Montt ist der voerst letzte Stützpunkt der hektischen Zivilisation. Südlich von hier beginnt die Wildnis der zerklüfteten Fjordlandschaften Westpatagoniens, die hinunterreicht bis nach Feuerland. Von hier aus windet sich die Panamericana als Carretera Austral noch einige hundert Kilometer als Schotterpiste für Allrad-Geländefahrzeuge weiter hinunter. Bis sie abseits jeglicher Zivilisation vor den riesigen Gletscherfeldern des Hielo Sur, des südlichen ewigen Eises, über das mörderische, lebensfeindliche Stürme hinwegfegen, kapituliert und abrupt im Nirgendwo abbricht.

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Cicero
Februar 2010
Guantánamo schließen - jetzt erst recht
© Volker Skierka
Die Reise ins Jenseits der Demokratie führte mich im Januar 2004 mitten hinein in eine militärische Version der „Truman Show“, jener Filmsatire von Peter Weir, in der ein ahnungsloser und gutgläubiger Kleinbürger zum Opfer einer Heile-Welt-Fernsehshow wird. In meinem Fall war das Pentagon der Regisseur der „Show“, die freilich keine Satire war, sondern blutiger Ernst. Schauplatz war der US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba [...]
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NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
9./10. August 2008
Kuba wartet auf seine Zukunft
Keine Aufbruchstimmung trotz angekündigter Veränderungen
Von Volker Skierka
Seit Raúl Castro vor zwei Jahren von seinem Bruder Fidel die Macht übernahm, sind in Kuba manche Veränderungen angekündigt und eingeleitet worden. Das Hauptproblem liegt in der Landwirtschaft, die dringend angekurbelt werden muss. Obwohl Kritik offener ausgedrückt wird, ist in der Bevölkerung keine Aufbruchstimmung spürbar.

Kuba wartet. Auf den Überlandbus, der selten kommt. Auf den alten sowjetischen Lastwagen, der mit einigen Dutzend Mitfahrern auf der Ladefläche über Strassen voller Schlaglöcher rumpelt. Auf den ausländischen Touristen mit dem komfortablen Mietwagen, bei dem ein Einheimischer sogar umsonst mitfahren kann. Oder einfach nur auf die einspännige und bunt geschmückte Pferdekutsche, die gemütlich durch den Ort trabt und Eilige ausbremst. Fröhlich und freundlich, hoffnungsvoll und optimistisch, mitunter auch erschöpft, resigniert und erloschen wartet ein ganzes Volk mit scheinbar grenzenloser Geduld jeden Tag in langen Schlangen und dicken Menschentrauben an den Strassenrändern und Weggabelungen darauf, irgendwohin mitgenommen zu werden, zur Arbeit, zu Verwandten, in die nächste Stadt – oder in ein anderes Leben... [...]
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DER TAGESSPIEGEL
13. Dezember 2008
Die Freiheit des anderen
Exilkubaner gegen Kuba – ein Terrorkampf seit Jahrzehnten. Mit Barack Obama kommt nun auch die Hoffnung auf Besserung
Von Volker Skierka
Sie werden die „Osama bin Ladens des Westens“ genannt. Luis Posada Carriles und Orlando Bosch zählen zu den gefährlichsten Terroristen der Welt. Unter den Veteranen von ihnen mitbegründeter exilkubanischer Terrornetzwerke wie „Alpha 66“, „Omega 7“, „CORU“, „El Condor“ und „Comando L“ genießen die beiden einen zweifelhaften Helden- und Kultstatus. In jenen Kreisen gelten sie als „gute“ Terroristen, weil sie über Jahrzehnte von Florida und Mittelamerika aus – immer wieder auch als feste wie freie Mitarbeiter der CIA – das Kuba der Brüder Fidel und Raúl Castro und von deren Freunden bekriegt haben. In die Hunderte geht die Zahl der im letzten halben Jahrhundert von ihnen und ihren Gesinnungsgenossen in zahlreichen Ländern, aber auch innerhalb der USA verübten, verantworteten oder zugeschriebenen Bombenanschläge, Attentate und Sabotageakte mit Explosiv- und biologischen Kampfstoffen sowie die Anzahl der menschlichen Kollateralschäden an Toten, Verletzten und Invaliden. [...]
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DIE ZEIT - Online
19. Februar 2008
Modell Kuba
Die neue Führung nach der Ära Castro wird wahrscheinlich reformbereit sein. Seine Machtelite jedoch wird versuchen, ihre Pfründe zu wahren
Von Von Volker Skierka
Es ist, als wäre er gestorben. Kaum jemand in der Welt konnte sich vorstellen, dass die Ära Fidel Castro anders zu Grabe getragen würde als in einem Sarg. Nun aber fand dies in Form der schlichten Mitteilung statt, er gebe seine Staatsämter auf.
Es passt irgendwie zu ihm, dass er seinen Abgang so inszeniert, dass er ihn auch noch selbst erleben darf. Aber vor allem auch, weil er so noch bestimmen kann, wer ihm folgt. Und das ist aller Wahrscheinlichkeit nach sein Bruder Raúl, der als Erster Vizepräsident schon seit anderthalb Jahren die Amtsgeschäfte des kranken Máximo Líder kommissarisch wahrgenommen hat.
Wenn die 624 Abgeordneten der gerade neugewählten kubanischen Nationalversammlung wie geplant am Sonntag zusammentreten und den 31-köpfigen Staatsrat, mithin praktisch die künftige Staatsführung wählen, dann dürfte der jüngere Bruder der einzige Kandidat für die Nachfolge des Staatspräsidenten sein.
Spannend an dem Ritual wird sein, wie dieser Staatsrat sonst zusammengesetzt sein wird, wer den Ministerrat bildet. Wer also jene Leute sind, die das schwierige Erbe des großen Caudillo übernehmen... [...]
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Hamburger Abendblatt,
2. März 2007
Hamburg ist nicht der Kongo
Von Volker Skierka
Was unterscheidet Hamburg vom Kongo? Und was den kongolesischen Staatspräsidenten Generalmajor Joseph Kabila von dem Hamburger SPD-Kreisvorsitzenden und Major der Reserve Johannes Kahrs (übrigens tragen beide die gleichen Initialen J. K. im Namen)? Sehr viel. Deshalb lohnt der Vergleich. Im Kongo haben voriges Jahr Kahrs' Bundeswehr-Kameraden im Auftrag der Uno für einen recht ordentlichen Ablauf der Präsidentenwahl gesorgt. In Hamburg ist hingegen etwas passiert, was man bisher nur aus Ländern wie dem Kongo kannte: Erst hat der Kreisfürst und Bundestagsabgeordnete Kahrs - Mitglied des Männerbundes Wingolf sowie des Präsidiums des Förderkreises Deutsches Heer - einen Putsch gegen sein Parteioberhaupt Mathias Petersen inszeniert.
Dann, als das Opfer sich nicht so einfach meucheln ließ, half eine manipulierte Wahl nach. Deren Ausgang erfüllte schließlich das Ziel: Der Kopf ist ab... [...]
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Der Tagesspiegel
5. August 2006
Revolutionär von der traurigen Gestalt
Fidel Castros Abschied von der Macht: Die Götterdämmerung hat längst eingesetzt. Und was kommt dann?
© Volker Skierka
Auf dem Sterbelager diktiert der große Freiheitskämpfer eine bittere Erkenntnis in sein Testament: „Wer sich der Revolution verschreibt, pflügt das Meer“, sagt er und prophezeit: „Dieses Land wird unweigerlich in die Hände einer enthemmten Masse geraten, um dann an verkappte kleine Tyrannen aller Farben und Rassen zu fallen.“ Diese letzten Worte von Simón Bolívar (1783-1830), dem Befreier Südamerikas von der spanischen Krone, finden sich in dem Roman „Der General in seinem Labyrinth“ von Gabriel García Márquez. Bei der Lektüre drängt sich der Verdacht auf, dass der Autor aber nicht nur Simón Bolívar, sondern auch seinen langjährigen Freund, den kubanischen Staatschef Fidel Castro vor Augen hatte.

Der ist so schwer erkrankt, dass er Anfang der Woche vor einer bedrohlichen Darmoperation die Macht „vorübergehend“ an seinen Bruder Raúl übertrug. Höhepunkt eines in den letzten Jahren zunehmend sichtbareren gesundheitlichen Verfalls des Máximo Líder. Damit stellen sich die Fragen nach der Zukunft der Tropeninsel drängender denn je zuvor... [...]
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B26 Europa/Lateinamerika
Feb. 2006
Zeitschrift für Kultur, Wirtschaft, Politik/ Revista de Cultura, Economía, Política
Mit Castros Tod kann die Repression auf Kuba zunehmen
Interview mit Volker Skierka
Von Guillem Sans
(Para la version espagnola: click Menü / Texte / Archiv)

Auszug:

Wie sehen Sie die Zukunft des Landes nach dem Tod des Máximo Líder?
Ich bin sehr besorgt über die Aussichten. Die amerikanische Politik ist bekannt. Mit Bush hat sich das Verhältnis eher noch verschärft. Andererseits hat man einen kleinen Spalt im Helms-Burton-Gesetz geöffnet. Unter dem Label „humanitäre Hilfe” sind seit Jahren enorme Lebensmittellieferungen nach Kuba möglich. Es ist so, dass die Kubaner jedes Jahr mittlerweile für zwischen 400 und 500 Millionen Dollar Lebensmittel gegen Barzahlung in den USA einkaufen. Das ist das Resultat einer unermüdlichen Lobbyarbeit der – eher republikanisch orientierten – amerikanischen Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie – zum Ärger der Europäer.

Was können europäische Diplomaten tun?
Die Beziehungen zu Europa sind praktisch komplett eingefroren. Es gibt weder ein amerikanisches noch ein bekanntes europäisches Konzept für das postcastristiche Kuba. Das einzige, was man von offizieller kubanischer Seite weiß, ist, dass Raúl Castro, der fünf Jahre jüngere Bruder, die Nachfolge antreten soll, und zwar nicht als Einzelherrscher, sondern als primus inter pares. Aber Fidel Castro greift neuerdings auch jenes Wirtschaftskonzept an, mit dem Kuba in den letzten zehn Jahren eigentlich ganz gut gefahren ist. So liegt jetzt alles wieder im Dunkeln.

Wie schätzen Sie den Strategiewechsel der Europäer ein?
Die Europäer haben ja den Versuch gemacht, und zwar ausgehend von Spanien, im vorigen Frühjahr die Frostperiode zu beenden, indem sie Lockerungen in den Beziehungen in Aussicht gestellt haben. Und als man nach einigen Vorsondierungen glaubte, jetzt käme man mit den Kubanern auf offizieller Ebene wieder ins Gespräch, hat Castro das ja brüsk unterbunden. Er hat sich sogar darüber lustig gemacht, die Regierung Zapateros in Spanien düpiert und gesagt, er brauche weder Europa noch die USA. Das mag für ihn gelten, aber wie soll es nach ihm für die Kubaner weitergehen? Er sollte froh sein, dass die Europäische Union sich um Kuba mehr zu sorgen scheint als die USA, die nur das Geschäft sehen.

Stillstand also...
…und Rückschritt: für das kubanische Volk eine desaströse Situation. ... [...]
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Der Tagesspiegel
27.02.2005
Guantánamo III
Stacheldraht im Kopf
In Guantánamo sitzen zurzeit 550 Häftlinge: ein rechtsfreier Raum, ein Desaster für die Demokratie. Und alle reden von Bushs Charme-Offensive
© Volker Skierka
Im Jahr 1874 meldete der Farmer J.F. Glidden aus Illinois eine Erfindung zum Patent an, welches die Tier- und später auch die Menschenhaltung revolutionieren sollte: den Stacheldraht. Seither erobert der mit spitzen Zacken versehene gezwirbelte Draht die Welt. Was ursprünglich dafür gedacht war, große Viehherden zusammenzuhalten, ist heute eine der effizientesten – und preiswertesten – Defensivwaffen der Menschheit.

Seine harmloseste Verwendung findet der Stacheldraht bei der Abwehr von Einbrechern, sein grausamster Einsatz spiegelt sich in den Bildern der Kriegsfotografie und denen der Konzentrationslagern der Nationalsozialisten – als Umzäunung von Gefangenenlagern und tödlichen Minenfeldern. Nach dem Zweiten Weltkrieg trennte er als Eiserner Vorhang Ideologien und Völker, in Sechzigern Polizisten von Demonstranten und bis heute weltweit Militärkasernen, staatliche Einrichtungen und Amtsträger vor verdächtigen Bürgern. Seit den Terroranschlägen vom 11. September hat es den Anschein, als werde der ganze Erdball allmählich eine Stacheldrahtkugel, der Reisefreiheit und den offenen Grenzen in der globalisierten Welt zum Trotz. Die fortschreitende Vernetzung der Bürger geht einher mit einem Verlust ihrer Bewegungsfreiheit... [...]
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DER TAGESSPIEGEL, Dritte Seite
26.01.2004
Guantánamo II
Wo endet das Recht?
Hunderte von „Terroristen“ sitzen in einem US-Lager weitab von der Welt – ein Besuch in Guantanamo Bay auf Kuba
© Volker Skierka
Die Farbe Orange. Seit dem 11. September 2001 steht sie in Amerika für den Verlust von Freiheit. Als Synonym für ein Leben in ständiger Bedrohung. Bei Terroralarm der Stufe „Code Orange“ droht überall Gefahr. Und Reisen in den Zeiten von „Code Orange“ bedeutet: Jeder ist verdächtig. Doch als der Autor an einem Januarmorgen im Marinestützpunkt Jacksonville in Florida sein Ticket mit der Nummer „VS206804PRC000“ in die Hand gedrückt bekommt, weiß er, dass er keine Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten darstellt. Schon vor Wochen musste sich sein Name auf eine Odyssee durch die Computer des Pentagon sowie der US-Sicherheits- und Geheimdienste begeben, ehe er die Erlaubnis erhielt, auf dem Militärflug BLM3 mitreisen zu dürfen. „Allein neun Tage dauerte es, bis Ihre FBI-Überprüfung vorlag“, wird ihm später jemand verraten. „Checked and cleared“, und „embedded“ in die von ihm unterschriebenen Verhaltensregeln der Public-Relations-Abteilung des US-Verteidigungsministeriums ist er schließlich unterwegs an ein für gewöhnliche Reisende verbotenes Ziel... [...]
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DER TAGESSPIEGEL
22.04.2002
Guantanamo I
Was tun die Yankees auf Kuba?
© Volker Skierka
Das knusprig-braune und fettglänzende Brathuhn, das der kubanische Kellner serviert, weckt nostalgische Erinnerungen an den legendären Gold-Broiler zu DDR-Zeiten. Um so mehr, weil der Blick vom Mittagstisch direkt auf eine Grenzanlage fällt, die dem „antifaschistischen Schutzwall“ ähnelt, welcher einst die Erde in ideologisch verfeindete Hälften dividierte. Minenfelder, Panzersperren, Stacheldrahtverhaue, Bunker, elektronische Sicherungsanlagen, Patrouillenwege, Wachtürme sind von dem über 400 Meter hoch gelegenen Aussichtspunkt „Los Malónes“ aus zu sehen. Dazwischen ein einsamer Grenzübergang, überragt von zwei Fahnenmasten. An dem diesseits flattert die kubanische Flagge, an jenem drüben die der Vereinigten Staaten von Amerika. „Drüben“, das ist der US-Flottenstützpunkt Guantánamo. Er ist 117,5 Quadratkilometer groß und liegt auf kubanischem Territorium. Uncle Sam, Fidel Castros Klassenfeind, hat ihn sich vor 99 Jahren angeeignet. [...]
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