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Castro - Graphic Novel / Comic
von Reinhard Kleist, mit einem Vorwort von Volker Skierka
280 Seiten, Hardcover, farbig, Deutschland: € 16,90 / Oesterreich: € 17,40 / Schweiz: sFr 30,90, Erscheinungsdatum: 1. Oktober 2010, Carlsen Verlag, ISBN 978-3-551-78965-5
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Marta Feuchtwanger Copyright Volker Skierka
Ein Don Quijote gegen Dummheit und Gewalt
Einstündiges Radio-Feature von Volker Skierka für NDR-Kultur aus Anlass des 50. Todestages am 21. Dezember 2008 und des 125. Geburtstages des deutsch-jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger am 7. Juli 2009 sowie ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Literaturexperten Prof. Fritz J. Raddatz.

Der Freund und Weggefährte von Bertolt Brecht, Heinrich und Thomas Mann, Arnold Zweig sowie anderen literarischen Zeitgenossen zählte zu den ersten, den die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung Hitlers ausbürgerten. 1933 zog der Verfasser historischer Romane wie „Jud Süß“, „Erfolg“, „Der jüdische Krieg“ und „Goya“ zunächst nach Sanary-sur-mer an der französischen Mittelmeerküste. 1940, nach dem Überfall Deutschlands auf Frankreich, mußte er er unter dramatischen Umständen in die USA fliehen. „Die Dummheit der Menschen ist weit und tief wie das Meer“, schrieb er 1933 in einem Brief an Zweig. Seine Arbeit widmete der linksbürgerliche Romancier dem – vergeblichen - Kampf der Vernunft gegen Dummheit und Gewalt. Volker Skierka, Journalist und Biograf Feuchtwangers, zeichnet dessen Leben anhand von Dokumenten, Interviews und – bislang unveröffentlichter - Tonbandaufnahmen zahlreicher Gespräche nach, die der Autor einst mit Feuchtwangers Witwe Marta und seiner Sekretärinnen Lola Sernau führte.
(Mehr unter Menüpunkten "Publikationen / Lion Feuchtwanger" sowie "Villa Aurora")

Konzentrationslager Birkenau (Auschwitz). - Text und Fotos: Volker Skierka
Weiße Flecken, dunkle Geschichte
Aus: Der Tagesspiegel, 20. Jan. 2006

80 Jugendliche, Deutsche und Polen, auf der Suche nach der Wahrheit, die die Nazis unterdrückt haben. Versuch einer Versöhnung

Alles ist wie in Watte gebettet. Der Schnee liegt hoch, die Bäume und der doppelte Stacheldrahtzaun sind weiß überpudert. In klirrender Kälte passieren die polnischen Germanistik-Studentinnen Kasia Król und Maria Mrówca das weit geöffnete Tor unter dem Schriftzug „Arbeit macht frei“. Es ist früh am Tag. Man ist allein im ehemaligen Menschen-Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau. Stumm, in sich gekehrt und ziellos gehen die jungen Frauen durch die einsamen Lagerstraßen, stehen in einer der ehemaligen Gefangenen-Unterkünfte plötzlich vor einer 20 Meter langen Glaswand, hinter der zwei Tonnen Menschenhaar liegen. Es konnte wegen der Befreiung des KZs nicht mehr an die Textilindustrie geliefert werden.

Kasia, die große, schlanke Dunkelhaarige, ist 21 Jahre alt, Maria, etwas kleiner und blond, ist 23. Ihre Gesichter sind wie versteinert. Draußen sagt Kasia nur: „Wenn man daran denkt, dass viele der Täter und der Opfer in unserem Alter waren …“ Dann nimmt Maria den Faden auf und sagt: „Ich glaube, es ist wichtig für die Deutschen, dass Menschen anderer Nationen mit ihnen darüber sprechen.“
In dem massiven roten Backsteinbau mit der Nummer 24, wo das Archiv jenes Ortes untergebracht ist, haben Kasia und Maria mit drei Kommilitoninnen und einem Kommilitonen von der Universität des 60 Kilometer entfernten Krakau mit einem einzigartigen deutsch-polnischen Geschichtsprojekt begonnen.

Die Studenten forschten nach Lücken und Manipulationen in der seit dem Überfall Hitlers auf Polen 1939 gleichgeschalteten Lokalpresse. Diese „weißen Flecken“ in der offiziellen Berichterstattung, versuchten die Studenten 60 Jahre nach Kriegsende mit Wahrheiten zu füllen. „Hunderte von dicken Bänden, Tagebücher und Dokumente, liegen hier“, sagen sie. „Wir haben einfach einige herausgegriffen, darin geblättert und gelesen. Das war der Anfang.“
Herausgekommen ist dabei aber nicht eine neue Arbeit über den Massenmord von Auschwitz, sondern eine Untersuchung über ein nahezu unbekanntes Thema – über den damals weitverzweigten und oft tödlichen Widerstand der gut organisierten polnischen Pfadfinderbewegung und deren Untergrundpresse im Raum Krakau...
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Volker Skierka: "Armin Mueller-Stahl - Begegnungen. Eine Biografie in Bildern."
216 Seiten gebunden, €39,90, erschienen im Oktober 2002 im Knesebeck Verlag München, ISBN 3-89660-139-3
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  E-Mail an Volker Skierka
 
TEXTCLIP AUS: Macht und Machenschaften

Macht und Machenschaften
Die Wahrheitsfindung in der Barschel-Affäre


Ein Fazit

von Volker Skierka
[Copyright: Verlag Rasch und Röhring,1988]



Nach einer Umfrage des Emnid-Instituts halten es 77 % der Bundesbürger für möglich, daß es in anderen Bundesländern zu ähnlichen Affären wie in Schleswig-Holstein kommen könnte. Der Fall Barschel war kein Zufall. Er war ein verunglückter Normalfall. Zufall war nur, daß die Machenschaften, mit denen die in jahrzehntelanger CDU-Herrschaft konstruierte Machtmaschine geschmiert wurde, aufflogen. Die Affäre Barschel/Pfeiffer war ein Betriebsunfall; denn wäre Reiner Pfeiffer nicht zum Spiegel gegangen und hätte sich selbst enttarnt - alles wäre noch so wie früher in Schleswig-Holstein. Barschel wäre wohl noch Ministerpräsident, der Hamburger Arbeitergeberpräsident und Schwarzkopf-Manager Ballhaus nicht beurlaubt und immer noch sein Freund, der Axel-Springer-Verlag wäre vor der Öffentlichkeit nicht als Desinformationsgigant blamiert, der Konzernchef und Kanzler-Kohl-Freund Tamm hätte sich nicht herablassen müssen, vor einem Untersuchungsausschuß Provinzpolitikern peinliche Fragen zu beantworten, und der CDU-Landesvorsitzende Gerhard Stoltenberg wäre immer noch der geachtete große Klare im Hintergrund. Gewiß, man hätte mit einer schwierigen Mehrheit oder gar keiner regiert; denn abwählen hätte man den Ministerpräsidenten nach der Verfassung nicht können, und irgendwann hätte man den Abgeordneten der dänischen Minderheit vielleicht doch kleingekriegt, einer CDU/FDP-Koalition über die Runden zu helfen. Schleswig-Holstein wäre wieder das schöne Land zwischen den Meeren mit einem Musik Festival in Scheunen, Schlössern und Parks gewesen. Und vielleicht hätte es ja bis zur nächsten Wahl geklappt, den der CDU und vor allem Barschel immer mehr Konkurrenz machenden SPD-Spitzenkandidaten Engholm doch noch aus dem Hinterhalt zu erledigen. Vielleicht hätte Barschel seinen Pfeiffer ja nur befördern müssen, wie all die vielen anderen um ihn herum befördert und mit Karrieren geködert worden waren, bis sie bereitwillig und gewissenlos die Spielregeln der Demokratie außer Kraft setzten und das alles ganz normal, überhaupt nicht verwerflich fanden. Das ganz persönliche Interesse, das der Partei und des Staates, sind in vielen unbelehrbaren Köpfen immer noch eins. Vielleicht war es wirklich der alles entscheidende Fehler, daß der Ministerpräsident den ihm lange Zeit treu ergebenen üblen Gesellen Pfeiffer nicht "anständig" belohnte, mit einem Staatssekretärs- oder gar Ministerposten, wie dieser ihn sich in seiner maßlosen Selbstüberschätzung erträumte. Der bis zum Wahlwochenende so unauffällige Pfeiffer wäre dann nur ein Gesicht mehr gewesen in einem Kabinett voller farbloser Gesichter, die alle nichts zu melden hatten unter Barschel und sich von diesem kujonieren ließen wie Schulbuben - bis zum Schluß. Wie gesagt: Eine schöne, heile Welt wäre das dann heute noch in Schleswig-Holstein.
Nun aber ist die schöne, heile Welt kaputt. Von der glanzvollen Inszenierung des Landesfürsten Barschel und all seiner Hofschranzen und grauen Eminenzen blieb nichts weiter als ein ekliges Schurkenstück - entlarvt von einer Handvoll Abgeordneter im SchleswigHolstein-Saal des Kieler Landeshauses nach einer Vorlage von Reiner Pfeiffer und dem Spiegel. Was kaum noch jemand für möglich gehalten hatte, war die Überraschung, daß es auch CDU-Politiker gab, die sich voller Entsetzen über das, was "die da oben" angerichtet hatten, mit den anderen Parteien um einen Tisch setzten, um wirklich "rückhaltlos" den Sumpf auszutrocknen und die demokratischen Spielregeln wieder in Kraft zu setzen. Es waren die CDU-Abgeordneten im Parlamentarischen Untersuchungsausschuß, kleine Lichter im Getriebe der großen Politik, die - vielleicht gerade deshalb, weil sie nicht abgehoben haben in die Sphäre der kalten Unmenschlichkeit berechnender Strategie und Taktik - in monatelanger Puzzle-Arbeit wieder so etwas wie eine Gemeinsamkeit der Demokraten herstellten. Sie sorgten dafür. daß jene Parteifreunde, die genauso selbstkritisch denken, morgens - und im Wahlkampf -wieder mit Anstand in den Spiegel gucken können.
Von ganz oben, vom Landesvorsitzenden Stoltenberg, erhielten sie keine Unterstützung. Er gedachte offensichtlich, den Skandal nach bewährter Bonner Methode auszusitzen, ihn zu reduzieren auf ein einmaliges Vorkommnis, für das allein das ausgeflippte Tätergespann Barschel/Pfeiffer und niemand sonst verantwortlich ist. Nur mühsam und für jeden sichtbar konnte er auf dem Parteitag Anfang November in Timmendorfer Strand seine hochkochende Wut unter Verschluß halten, als einzelne Parteimitglieder bis hinauf zum Justizminister und neuen Spitzenkandidaten Heiko Hoffmann ehrlichen Herzens beim Oppositionsführer um Verzeihung baten. Erst unter dem zunehmenden Druck der öffentlichen Meinung fand er sich
gegenüber Engholm zu einer Entschuldigung bereit - eine Entschuldigung, die zwar aus dem Mund, nicht aber aus dem Herzen kam. Den Untersuchungsausschuß, vor dem auch er als Zeuge erscheinen mußte, verblüffte er mit der Aussage: "Ich kann bis zum heutigen Tage nicht erkennen, daß Mitglieder der CDU in Zusammenhang zu bringen sind mit den Dingen, die unter >Kieler Affäre< zusammengefaßt werden." Er brüskierte damit nicht zuletzt seine eigenen "Parteifreunde" im Ausschuß. die bei diesen Worten das Gefühl überkommen mußte, alles, was der Ausschuß bisher herausgefunden hatte, sei ein riesengroßes Hirngespinst.
Aber es ist kein Hirngespinst. Pfeiffers anfangs unglaubliche Erzählungen über den Umgang der Regierungspartei mit der Macht wucherten zu Wahrheiten, die die Barschel/Pfeiffer-Affäre längst zu einer Staatsaffäre haben mutieren lassen. Die Ermittler im Untersuchungsausschuß deckten auf, wie sich eine auf dem Rücken einer demokratischen Partei durch demokratische Wahlen an die Spitze gekommene Führungsclique den Staat und seine Institutionen zunehmend zur Beute machte. Diese Clique war jedoch nicht über Nacht plötzlich da, es war eine über Jahre gewachsene Seilschaft. Barschel war der politische Ziehsohn Stoltenbergs. Der schon pathologisch ehrgeizige Zögling und seine Vasallen waren das Produkt einer Umwelt, die von ihnen erwartete, daß sie im Sinne der Machterhaltung funktionierten. Und alle, die etwas hätten merken müssen oder sogar etwas gemerkt haben, von der Sekretärin über den Kriminalbeamten bis hinauf zur Staatssekretärs- und Ministerebene, haben die Dinge geschehen lassen. Unrechtsbewußtsein und Zivilcourage waren und sind offenbar die am meisten verkümmerten Charaktereigenschaften in der politischen Führungsklasse von Schleswig-Holstein und der ihr nachgeordneten Administration. Lieber ließ man die persönliche Moral und die politische Kultur verkommen als "Stopp" zu rufen.
Wäre man in der Staatskanzlei, in den von Pfeiffer kontaktierten Behörden und in der Partei durchweg von redlicher und fairer Gesinnung gewesen, hätte irgendwann einmal jemand zum Telefonhörer greifen und nachfragen müssen, ob in Barschels Umgebung eigentlich jemand sitzt, der übergeschnappt ist. Aber nur weil so viele in den Schaltzentralen der Partei und der Regierung in perversen politischen Kategorien dachten und andere schwiegen, konnte Pfeiffer sich entfalten.
Es war schon gespenstisch, wie der CDU-Landesvorsitzende in seiner unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit vor dem Untersuchungsausschuß allen Ernstes behauptete, im Zusammenhang der Vermischung von Staats- mit Parteiinteressen könne er nur in einem Fall eine "Grenzüberschreitung" erkennen, nämlich die, daß Pfeiffers Diensttelefonnummer in der Staatskanzlei als Kontaktnummer für die CDU-Wahlkampfzeitung genannt worden sei. Vielleicht muß man Stoltenberg zubilligen, daß er subjektiv sogar die Wahrheit spricht: Die Wahrheit liegt für ihn offenbar dort, wo er die Grenze zieht: Je weiter sie gesteckt ist, desto größer ist der Auslauf und desto weniger Grenzüberschreitungen gibt es; um so geringer ist auch die Verantwortung und desto reiner ist schließlich das Gewissen. Daß der Spielraum des einen immer kleiner wird, wenn der andere den seinen beliebig ausdehnt, ist einzig eine Machtfrage. Aus dieser Perspektive ist es einleuchtend, daß für Stoltenberg das Pamphlet "Betrifft: Engholm", das unter seiner politischen Verantwortung als CDU-Landesvorsitzender von einem hohen Regierungsbeamten aus der Staatskanzlei "unter Mitarbeit aller Häuser", sprich: Ministerien, für die Partei als Wahlkampfmunition gefertigt wurde, nichts grundsätzlich Verwerfliches ist. Und deshalb fand er auch nichts dabei, ausdrücklich einer Neuauflage zuzustimmen, obwohl sich einzelne CDU-Funktionäre weigerten, die üble Broschüre, in der der Oppositionsführer als Landesverräter gebrandmarkt wird, überhaupt zu verteilen.
Wie weit die Regierungspartei ihre Grenzen tatsächlich steckte, kam am Rande der Untersuchungen ebenfalls heraus. 1974, als Stoltenberg Ministerpräsident von Schleswig-Holstein war, forderte der damals 30jährige Fraktionsvorsitzende Barschel in einem vertraulichen Papier: "In der Beförderungspraxis muß sichtbar - und zwar geräuschlos - werden, daß unsere Regierung CDU-Freunde am ehesten für geeignet hält, CDU-Politik an Ort und Stelle zu verwirklichen." Doch dies war nicht neu, allenfalls eine Erinnerung. Schon 1956 mahnte der Landesfachausschuß der CDU, "die Verwaltungsangehörigen mit CDU-Gesinnung" seien die einzigen, "auf die wir dann noch rechnen können. wenn die politische Führung der Verwaltung einmal in andere Hände übergehen sollte".
In ihrer politischen Bewertung der Ermittlungsergebnisse des Untersuchungsausschusses kommen SPD, FDP und SSW - unabhängig von dem gemeinsam mit der CDU verabschiedeten offiziellen Bericht über die Arbeit des Gremiums - zu dem weitgehend übereinstimmenden Resümee: "Die Vorstellung, daß die CDU auf den Verwaltungsapparat dadurch stärkeren Einfluß ausüben sollte, daß -möglichst geräuschlos - alle einflußreichen Stellen mit Mitgliedern
der Regierungspartei besetzt werden sollten, hat dazu geführt, daß es heute im Schleswig-holsteinischen Verwaltungsapparat kaum einen Abteilungsleiter gibt, der einer anderen Partei als der CDU angehört. Dies ist ein Beleg dafür, daß vielfach nicht nur die berufliche Qualifikation - wie vom Grundgesetz gefordert -, sondern insbesondere die parteipolitische Ausrichtung entscheidender Maßstab für die Ernennung war. Damit aber wurde das Prinzip des Machterhalts für viele zu einem Karriere-. für manche sogar zu einem existentiellen Problem. Deshalb fehlte oft die kritische Distanz zum eigenen Handeln. Diese Entwicklung setzte sich in Maßnahmen fort. die allein dem Machterhalt dienten und die auch darauf gerichtet waren, die Kontrolle politischer Macht nach und nach einzuschränken."
Barschel habe, so heißt es im Votum der sozialdemokratischen Untersuchungsausschußmitglieder, "demokratische Normen" verletzt, sein Amt mißbraucht und den Staatsapparat in verfassungswidriger Weise für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert. Dabei sei ihm ein durch ihn selbst und durch den CDU-Landesvorsitzenden und früheren Ministerpräsidenten Stoltenberg gestaltetes politisches "Milieu" in Regierung und Verwaltung zustatten gekommen: "Stoltenberg ist auch für die Strukturen in der Landesregierung und die Verquickung von CDU-Partei und Staatsapparat, ohne die die subversiven Aktivitäten zugunsten der CDU und Barschels nicht möglich gewesen wären, mitverantwortlich. Während seiner Zeit als Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein - 1971 bis 1982 - hat Stoltenberg den Rohbau errichtet, aus dem Barschel das Gebäude schuf, in dem er sich mit seinen Gehilfen einrichtete und aus dem heraus Komplott und Schmutzkampagne gesteuert wurden." Der Wahlkampf der Schleswig-holsteinischen CDU bestand aber nicht nur aus einer Serie von Unrat, sondern auch aus einer Abfolge von Gesetzesbrüchen. Partei und Regierung rührten grenzüberschreitend im Sumpf herum, Woche für Woche, Monat für Monat gegen ein Bundesverfassungsgerichtsurteil verstoßend, in dessen Leitsätzen es heißt: "Den Staatsorganen ist es von Verfassungs wegen versagt, sich in amtlicher Funktion im Hinblick auf Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen, insbesondere durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen." Daß aber genau dies geschah, ist das übereinstimmende Urteil aller vier im Ausschuß vertretenen Parteien, also auch der CDU. Doch bis zum heutigen Tage fehlte Stoltenberg auch in diesem Komplex die Einsichtsfähigkeit. Entsprechend war das Umfeld beschaffen, das Pfeiffer vorfand, als er nach Kiel kam, und das ihn, der sich zuvor fast zehn Jahre lang für die CDU in Bremen auf seine und deren Art bewährt hatte, ermutigte und inspirierte.
Der von Pfeiffer und dem stellvertretenden Regierungssprecher Ahrendsen erarbeitete und in Absprache mit Barschel großenteils realisierte Public-Relations-Katalog "Arme/Alte/Kranke/Kinder/ Tiere" ist ein Beleg für die bizarre Ideenwelt in der Staatskanzlei. An diesem wie vielen anderen Punkten wurde im Untersuchungsausschuß deutlich, daß Pfeiffer als Neuling an der Kieler Waterkant die meisten seiner Aktivitäten allein und ohne Hilfe von Mittätern und Mitwissern so zielgerichtet gar nicht hätte planen und entwickeln können. Dazu heißt es im Votum der CDU-Mitglieder im Untersuchungsausschuß in schonungsloser Offenheit: "Der frühere Ministerpräsident Dr. Barschel war an den unlauteren und ungesetzlichen Machenschaften persönlich beteiligt, teils geschahen sie auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin, teils wirkte er mit, teils duldete er sie. Während die Aktivitäten Pfeiffers für den Ministerpräsidenten damit endeten, daß er sein Wissen zunächst der SPD und dann dem Spiegel anträgt, enden die unbegreiflichen Handlungen Barschels mit diesem Zeitpunkt nicht. Um jeden Verdacht von sich und seinen Mitarbeitern abzuwenden, versucht er zunächst, sich selbst durch die Beschaffung einer Abhöranlage als Opfer darzustellen. Er hat gegenüber seinen Parlamentskollegen und der Öffentlichkeit die Unwahrheit gesagt und dies mit seinem Ehrenwort bekräftigt. Er hat eine in mehreren Punkten falsche eidesstattliche Versicherung bei Gericht vorgelegt. Insbesondere hat er jedoch, zu all den Punkten, bei denen nicht nur seine Aussage der Aussage des Betroffenen Pfeiffer gegenüberstand, sondern weitere Beweismittel hinzukamen, Menschen aus seiner nächsten Umgebung, die in den letzten Jahren treu ergeben für ihn gearbeitet haben, veranlaßt, für ihn falsche eidesstattliche Versicherungen abzugeben und vor der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsausschuß die Unwahrheit zu sagen. (. . .) Das Handeln des Betroffenen Barschel gegenüber dem Oppositionsführer Engholm und gegenüber konkurrierenden Parteien war offenbar von dem einzigen Ziel beseelt, Macht zu erhalten, auf welchem Wege auch immer."
Aus dem Bericht des Untersuchungsausschusses und der Voten von SPD, CDU, FDP und des SSW sowie aus den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft geht hervor, daß Pfeiffers Bezichtigungen, Behauptungen und Geständnis im Kern zutreffend sind und Barschel
praktisch in allen Punkten als Mitwisser und Mittäter überführt ist. Als eine "Schlüsselfigur" in der Affäre enttarnte der Untersuchungsausschuß den "Kreisläufer" Ahrendsen; und an der Glaubwürdigkeit zahlreicher anderer Zeugen bestehen nach dem Eindruck des Untersuchungsausschusses erhebliche Bedenken: so beim Chef der Staatskanzlei und einigen seiner Mitarbeiter ebenso wie bei dem beurlaubten Geschäftsführer des Shampoo-Herstellers Schwarzkopf. Ballhaus, bis hin zu Zeugen aus der Chefetage des Springer-Konzerns.
Ein ganzes Panorama der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft mußte in vier Monaten im Schleswig-Holstein-Saal des Kieler Landtages aufmarschieren und Zeugnis ablegen über den Störfall im Normalbetrieb. Und nun, am Ende. klebt ausgerechnet an den Stützen dieser Gesellschaft der Zweifel, ob sie wirklich jederzeit bereit waren und sind, standhaft für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten; denn am Ende eines Wahlkampffeldzuges gegen das rot-grüne Chaos stand peinlicherweise das aus einem Filz von Macht und Geld gezüchtete schwarze Chaos.
Die Kieler Affäre (die längst mehr ist als eine Barschel/Pfeiffer-Affäre) und ihre Aufarbeitung durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß sind auch ein Lehrstück - ein Lehrstück aber nicht nur für den Schulgebrauch, sondern geeignet zum Nachhilfeunterricht für viele Väter und Tugendwächter unserer Demokratie. Aber leider steht zu befürchten, daß in mancher Chefetage und mancher Staatskanzlei der viele hundert Seiten starke Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses nur dazu dienen wird, Lehren für die Zukunft in dem Sinne zu ziehen, wie das "Pfeiffersche Syndrom" als Betriebsunfall künftig vermieden und ein effizientes und lautloses Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft gewahrt bleiben kann. Nach einer Umfrage des Emnid-Instituts halten es 77 Prozent der Bundesbürger für möglich, daß es in anderen Bundesländern zu ähnlichen Affären wie in Schleswig-Holstein kommen könnte. Das kommt freilich nur ans Licht, wenn einige Sicherungen durchbrennen. Und so kann man davon ausgehen, daß nach der Kieler Affäre die Sicherungssysteme verstärkt werden: Auf der einen Seite wird man versuchen, daß ein Fall Barschel/Pfeiffer durch zusätzliche demokratische Transparenz in der Zukunft ausgeschaltet wird, und auf der anderen Seite wird man zusehen, daß die Sicherungen so sicher sind, daß sie nicht mehr durchbrennen - sprich: daß nichts mehr so leicht herauskommt.
Der Kieler Untersuchungsausschuß wird vielleicht auch vor diesem Hintergrund als der erfolgreichste Untersuchungsausschuß in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte in die Lehrbücher eingehen. Wie in einer anderen Welt fühlte man sich zuweilen im Schleswig-Holstein-Saal des Kieler Landeshauses, wenn die Abgeordneten in einem Arbeitsklima, das frei war von dem parteipolitischen Gezänk draußen vor der Tür, unbeirrbar der Wahrheit auf den Grund zu gehen suchten. Das lag zum einen an der behutsamen Verhandlungsführung des Ausschußvorsitzenden Klingner, der in seiner ruhigen Art viel Fingerspitzengefühl. fachliche Kompetenz und Einfühlungsvermögen im Umgang mit den Zeugen bewies. Zum anderen waren die CDU-Abgeordneten im Ausschuß - jedenfalls bis zum Abschluß der Zeugenvernehmung - der Auffassung. daß für ihre Partei ein glaubwürdiger Neuanfang nur nach einer rückhaltlosen Aufklärung, nach einer gründlichen Vergangenheitsbewältigung statt Verdrängung zu machen ist. Das gute Zusammenspiel aller Parteien im Ausschuß, die sich häufig die Frage-Bälle zuspielten, führte oft dazu, daß sich viele Zeugen, ohne es zunächst zu merken, selbst entlarvten - vom Sicherheitsbeamten bis hinauf zu Geschäftsführenden Ministerpräsidenten.
Er duldete es zum Beispiel, daß sich die Staatskanzlei-Mitarbeiter gebärdeten wie eine Maurerriege in Schlips und Kragen. Sie errichteten mit ihrem "Polier", dem Staatskanzlei-Chef, Staatssekretär Hebbeln, dessen gutes Gedächtnis im Kieler Landeshaus gefürchtet war, eine große Mauer des Vergessens mit großen Löchern drin -das waren die Erinnerungslücken. Einen krassen Eindruck hinterließen im Ausschuß die Vertreter der Staatsanwaltschaft Lübeck, die sich dem Verdacht aussetzten, "ihre Ermittlungen nicht mit der gebotenen Neutralität durchgeführt" zu haben, wie es im Votum der FDP zum Untersuchungsbericht heißt. Zwar konnte der Untersuchungsausschuß für seine Arbeit im wesentlichen auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungsunterlagen zurückgreifen, jedoch wurde deutlich, daß Untersuchungsausschuß und Staatsanwaltschaft auf der Basis der Ermittlungsakten lange Zeit in völlig verschiedene Richtungen forschten - die Laienjuristen im Ausschuß in die richtige, die Profis in Lübeck in die falsche Richtung. Die Art und Weise, wie der Leitende Lübecker Oberstaatsanwalt Kleiner lange Zeit von Barschel weg und in Richtung eines Komplotts der SPD mit Pfeiffer ermittelte, als er längst den wahren Tätern hätte auf die Spur kommen können, disqualifiziert nicht nur die Kompetenz der Justizbehörde und deren Ermittlungsergebnis, sondern provozierte geradezu disziplinarische Konsequenzen. Wenn ein Leitender Oberstaatsanwalt vor Abgeordneten eines Untersuchungsausschusses
überdies die Auffassung vertritt, "Täter" und "Tatverdächtiger" sei für ihn das gleiche, ist er nicht mehr tragbar.
Es ist auffallend, daß sich die CDU-Mitglieder im Ausschuß nach Abschluß der Untersuchungen im Gegensatz zu den anderen Parteien in ihrer Beurteilung über das Vorgehen der Lübecker Staatsanwälte (die auch ein Ausdruck jener jahrzehntelangen geräuschlosen CDU-Personalpolitik in den Behörden sind) zurückhielten. Die Unionsabgeordneten klinkten sich aber nicht nur in diesem Punkt plötzlich bei der Abschluß-Bewertung der Affäre aus. Nach dem Motto: "Wie du mir so ich dir" widmete sich die CDU im Gegenzug zu der SPD-Kritik an der politischen Verantwortung Stoltenbergs ausführlich der fragwürdigen Informationspolitik der Sozialdemokraten zu ihren Kontakten mit Pfeiffer. Unterstützt von der FDP wirft die Union den Sozialdemokraten vor, in diesem Punkt ihrer Rolle einer um Aufklärung bemühten, wachsamen Oppositionspolitik nicht gerecht geworden zu sein, auch wenn - wie die FDP betont - "die Versäumnisse und Aktivitäten der Oppositionspartei qualitativ mit den ermittelten Machenschaften des ehemaligen Ministerpräsidenten Dr. Barschel und des Medienreferenten Reiner Pfeiffer überhaupt nicht vergleichbar" seien. Am Ende gab es zwar einen gemeinsamen Bericht des Ausschusses, aber vier, teilweise überlappende politische Bewertungen. Der Wahlkampf ließ grüßen. Draußen vor dem Schleswig-Holstein-Saal herrschte eben wieder die Politik des Landesvorsitzenden Stoltenberg, der seinerseits zwar die Aufforderung an Barschel zur Mandatsniederlegung unterstützte, sich aber hinterher an die Spitze jener Bewegung zu setzen verstand, die empört "Vorverurteilung" schrie und zur Strafe Trutz Graf Kerssenbrock als Obmann im Ausschuß fallenließ. Bezeichnend für den inneren Zustand der CDU war es auch, daß gerade die Mitglieder im Untersuchungsausschuß um ihre Wiederaufstellung als Landtagskandidaten fürchten mußten. Anstatt all jene für die Weiterentwicklung der Partei unverzichtbaren kritischen Geister, die den Landesverband eigentlich ins nächste Jahrtausend führen sollen, zu stützen und zu fördern, werden sie unter den Augen eines von einem Führungsfehler in den nächsten taumelnden Landesvorsitzenden abgeblockt. Dies ist Ausdruck des Altersstarrsinns einer in jahrzehntelanger Machtausübung in Schleswig-Holstein erstarrten Honoratiorenpartei. Indem die Kräfte der Selbstreinigung aus wahlspekulativen Gründen unter Druck gesetzt wurden, setzte die CDU-Führung zugleich all das aufs Spiel, was sie durch die Aufklärungsbemühungen ihrer Abgeordneten im Ausschuß an Reputation zurückgewonnen hatte. Die erfolgreiche Arbeit dieses Untersuchungsausschusses könnte auch ein Ansatzpunkt für alle Parteien sein, das verlorengegangene Vertrauen vieler Bürger in den Staat und in die Parteien zurückzugewinnen. Denn in einer Zeit, in der die Exekutive so schwere Schuld auf sich geladen hat und der Justizapparat wie ein monströser Zyklop den Tatort unter der falschen Adresse suchte, blieb das Parlament als einzige der drei verfassungsgemäßen Gewalten in Schleswig-Holstein übrig, die noch funktionierte. Wie sagte schließlich der Lübecker Bischof Ulrich Wilckens in seiner Trauerpredigt für Barschel? "Der plötzliche Tod Uwe Barschels, des Ministerpräsidenten, mitten hinein in den Morast von Affären und Machenschaften, (. . .) erregt ja nicht nur die persönliche Teilnahme vieler, vieler Menschen, sondern eben auch eine brennende Scham über den inneren Zustand unseres Gemeinwesens, wie er hier wie in einem Menetekel offenbar geworden ist."

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Seit Raúl Castro vor zwei Jahren von seinem Bruder Fidel die Macht übernahm, sind in Kuba manche Veränderungen angekündigt und eingeleitet worden. Das Hauptproblem liegt in der Landwirtschaft, die dringend angekurbelt werden muss. Obwohl Kritik offener ausgedrückt wird, ist in der Bevölkerung keine Aufbruchstimmung spürbar.

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Die neue Führung nach der Ära Castro wird wahrscheinlich reformbereit sein. Seine Machtelite jedoch wird versuchen, ihre Pfründe zu wahren
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Es ist, als wäre er gestorben. Kaum jemand in der Welt konnte sich vorstellen, dass die Ära Fidel Castro anders zu Grabe getragen würde als in einem Sarg. Nun aber fand dies in Form der schlichten Mitteilung statt, er gebe seine Staatsämter auf.
Es passt irgendwie zu ihm, dass er seinen Abgang so inszeniert, dass er ihn auch noch selbst erleben darf. Aber vor allem auch, weil er so noch bestimmen kann, wer ihm folgt. Und das ist aller Wahrscheinlichkeit nach sein Bruder Raúl, der als Erster Vizepräsident schon seit anderthalb Jahren die Amtsgeschäfte des kranken Máximo Líder kommissarisch wahrgenommen hat.
Wenn die 624 Abgeordneten der gerade neugewählten kubanischen Nationalversammlung wie geplant am Sonntag zusammentreten und den 31-köpfigen Staatsrat, mithin praktisch die künftige Staatsführung wählen, dann dürfte der jüngere Bruder der einzige Kandidat für die Nachfolge des Staatspräsidenten sein.
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Hamburger Abendblatt,
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Hamburg ist nicht der Kongo
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Was unterscheidet Hamburg vom Kongo? Und was den kongolesischen Staatspräsidenten Generalmajor Joseph Kabila von dem Hamburger SPD-Kreisvorsitzenden und Major der Reserve Johannes Kahrs (übrigens tragen beide die gleichen Initialen J. K. im Namen)? Sehr viel. Deshalb lohnt der Vergleich. Im Kongo haben voriges Jahr Kahrs' Bundeswehr-Kameraden im Auftrag der Uno für einen recht ordentlichen Ablauf der Präsidentenwahl gesorgt. In Hamburg ist hingegen etwas passiert, was man bisher nur aus Ländern wie dem Kongo kannte: Erst hat der Kreisfürst und Bundestagsabgeordnete Kahrs - Mitglied des Männerbundes Wingolf sowie des Präsidiums des Förderkreises Deutsches Heer - einen Putsch gegen sein Parteioberhaupt Mathias Petersen inszeniert.
Dann, als das Opfer sich nicht so einfach meucheln ließ, half eine manipulierte Wahl nach. Deren Ausgang erfüllte schließlich das Ziel: Der Kopf ist ab... [...]
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Revolutionär von der traurigen Gestalt
Fidel Castros Abschied von der Macht: Die Götterdämmerung hat längst eingesetzt. Und was kommt dann?
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Auf dem Sterbelager diktiert der große Freiheitskämpfer eine bittere Erkenntnis in sein Testament: „Wer sich der Revolution verschreibt, pflügt das Meer“, sagt er und prophezeit: „Dieses Land wird unweigerlich in die Hände einer enthemmten Masse geraten, um dann an verkappte kleine Tyrannen aller Farben und Rassen zu fallen.“ Diese letzten Worte von Simón Bolívar (1783-1830), dem Befreier Südamerikas von der spanischen Krone, finden sich in dem Roman „Der General in seinem Labyrinth“ von Gabriel García Márquez. Bei der Lektüre drängt sich der Verdacht auf, dass der Autor aber nicht nur Simón Bolívar, sondern auch seinen langjährigen Freund, den kubanischen Staatschef Fidel Castro vor Augen hatte.

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B26 Europa/Lateinamerika
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Zeitschrift für Kultur, Wirtschaft, Politik/ Revista de Cultura, Economía, Política
Mit Castros Tod kann die Repression auf Kuba zunehmen
Interview mit Volker Skierka
Von Guillem Sans
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Auszug:

Wie sehen Sie die Zukunft des Landes nach dem Tod des Máximo Líder?
Ich bin sehr besorgt über die Aussichten. Die amerikanische Politik ist bekannt. Mit Bush hat sich das Verhältnis eher noch verschärft. Andererseits hat man einen kleinen Spalt im Helms-Burton-Gesetz geöffnet. Unter dem Label „humanitäre Hilfe” sind seit Jahren enorme Lebensmittellieferungen nach Kuba möglich. Es ist so, dass die Kubaner jedes Jahr mittlerweile für zwischen 400 und 500 Millionen Dollar Lebensmittel gegen Barzahlung in den USA einkaufen. Das ist das Resultat einer unermüdlichen Lobbyarbeit der – eher republikanisch orientierten – amerikanischen Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie – zum Ärger der Europäer.

Was können europäische Diplomaten tun?
Die Beziehungen zu Europa sind praktisch komplett eingefroren. Es gibt weder ein amerikanisches noch ein bekanntes europäisches Konzept für das postcastristiche Kuba. Das einzige, was man von offizieller kubanischer Seite weiß, ist, dass Raúl Castro, der fünf Jahre jüngere Bruder, die Nachfolge antreten soll, und zwar nicht als Einzelherrscher, sondern als primus inter pares. Aber Fidel Castro greift neuerdings auch jenes Wirtschaftskonzept an, mit dem Kuba in den letzten zehn Jahren eigentlich ganz gut gefahren ist. So liegt jetzt alles wieder im Dunkeln.

Wie schätzen Sie den Strategiewechsel der Europäer ein?
Die Europäer haben ja den Versuch gemacht, und zwar ausgehend von Spanien, im vorigen Frühjahr die Frostperiode zu beenden, indem sie Lockerungen in den Beziehungen in Aussicht gestellt haben. Und als man nach einigen Vorsondierungen glaubte, jetzt käme man mit den Kubanern auf offizieller Ebene wieder ins Gespräch, hat Castro das ja brüsk unterbunden. Er hat sich sogar darüber lustig gemacht, die Regierung Zapateros in Spanien düpiert und gesagt, er brauche weder Europa noch die USA. Das mag für ihn gelten, aber wie soll es nach ihm für die Kubaner weitergehen? Er sollte froh sein, dass die Europäische Union sich um Kuba mehr zu sorgen scheint als die USA, die nur das Geschäft sehen.

Stillstand also...
…und Rückschritt: für das kubanische Volk eine desaströse Situation. ... [...]
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Der Tagesspiegel
27.02.2005
Guantánamo III
Stacheldraht im Kopf
In Guantánamo sitzen zurzeit 550 Häftlinge: ein rechtsfreier Raum, ein Desaster für die Demokratie. Und alle reden von Bushs Charme-Offensive
© Volker Skierka
Im Jahr 1874 meldete der Farmer J.F. Glidden aus Illinois eine Erfindung zum Patent an, welches die Tier- und später auch die Menschenhaltung revolutionieren sollte: den Stacheldraht. Seither erobert der mit spitzen Zacken versehene gezwirbelte Draht die Welt. Was ursprünglich dafür gedacht war, große Viehherden zusammenzuhalten, ist heute eine der effizientesten – und preiswertesten – Defensivwaffen der Menschheit.

Seine harmloseste Verwendung findet der Stacheldraht bei der Abwehr von Einbrechern, sein grausamster Einsatz spiegelt sich in den Bildern der Kriegsfotografie und denen der Konzentrationslagern der Nationalsozialisten – als Umzäunung von Gefangenenlagern und tödlichen Minenfeldern. Nach dem Zweiten Weltkrieg trennte er als Eiserner Vorhang Ideologien und Völker, in Sechzigern Polizisten von Demonstranten und bis heute weltweit Militärkasernen, staatliche Einrichtungen und Amtsträger vor verdächtigen Bürgern. Seit den Terroranschlägen vom 11. September hat es den Anschein, als werde der ganze Erdball allmählich eine Stacheldrahtkugel, der Reisefreiheit und den offenen Grenzen in der globalisierten Welt zum Trotz. Die fortschreitende Vernetzung der Bürger geht einher mit einem Verlust ihrer Bewegungsfreiheit... [...]
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DER TAGESSPIEGEL, Dritte Seite
26.01.2004
Guantánamo II
Wo endet das Recht?
Hunderte von „Terroristen“ sitzen in einem US-Lager weitab von der Welt – ein Besuch in Guantanamo Bay auf Kuba
© Volker Skierka
Die Farbe Orange. Seit dem 11. September 2001 steht sie in Amerika für den Verlust von Freiheit. Als Synonym für ein Leben in ständiger Bedrohung. Bei Terroralarm der Stufe „Code Orange“ droht überall Gefahr. Und Reisen in den Zeiten von „Code Orange“ bedeutet: Jeder ist verdächtig. Doch als der Autor an einem Januarmorgen im Marinestützpunkt Jacksonville in Florida sein Ticket mit der Nummer „VS206804PRC000“ in die Hand gedrückt bekommt, weiß er, dass er keine Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten darstellt. Schon vor Wochen musste sich sein Name auf eine Odyssee durch die Computer des Pentagon sowie der US-Sicherheits- und Geheimdienste begeben, ehe er die Erlaubnis erhielt, auf dem Militärflug BLM3 mitreisen zu dürfen. „Allein neun Tage dauerte es, bis Ihre FBI-Überprüfung vorlag“, wird ihm später jemand verraten. „Checked and cleared“, und „embedded“ in die von ihm unterschriebenen Verhaltensregeln der Public-Relations-Abteilung des US-Verteidigungsministeriums ist er schließlich unterwegs an ein für gewöhnliche Reisende verbotenes Ziel... [...]
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DER TAGESSPIEGEL
22.04.2002
Guantanamo I
Was tun die Yankees auf Kuba?
© Volker Skierka
Das knusprig-braune und fettglänzende Brathuhn, das der kubanische Kellner serviert, weckt nostalgische Erinnerungen an den legendären Gold-Broiler zu DDR-Zeiten. Um so mehr, weil der Blick vom Mittagstisch direkt auf eine Grenzanlage fällt, die dem „antifaschistischen Schutzwall“ ähnelt, welcher einst die Erde in ideologisch verfeindete Hälften dividierte. Minenfelder, Panzersperren, Stacheldrahtverhaue, Bunker, elektronische Sicherungsanlagen, Patrouillenwege, Wachtürme sind von dem über 400 Meter hoch gelegenen Aussichtspunkt „Los Malónes“ aus zu sehen. Dazwischen ein einsamer Grenzübergang, überragt von zwei Fahnenmasten. An dem diesseits flattert die kubanische Flagge, an jenem drüben die der Vereinigten Staaten von Amerika. „Drüben“, das ist der US-Flottenstützpunkt Guantánamo. Er ist 117,5 Quadratkilometer groß und liegt auf kubanischem Territorium. Uncle Sam, Fidel Castros Klassenfeind, hat ihn sich vor 99 Jahren angeeignet. [...]
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